Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
zusätzlich beschwert, bleiern beinahe. Noch bevor sie das fünfte Deck erreichen, sackt er auf den Stufen zusammen. »Ich muss mich ausruhen, nur kurz«, keucht er, doch im selben Moment ist Per an seiner Seite.
»Nein, wir haben keine Zeit, Jasper. Das Schiff entfernt sich immer weiter vom Ufer.« Erneut zieht er den Ärmel seines Hemdes zurück und hält Jasper die Uhr vors Gesicht. 1 0 380 steht nun auf der Anzeige.
»Siehst du die Zahl?«, fragt er.
»Ja, aber ich verstehe nicht –«
»Verstehen musst du bloß eins: Wenn die Uhr 1 1 034 anzeigt, sind wir so weit draußen, dass auch Mare dir nicht mehr helfen kann. Es gibt eine Grenze, und wenn man sie passiert, dann bringt einen nichts und niemand mehr zurück.«
Als Jasper noch immer keine Anstalten macht, sich zu erheben, rückt Per näher an ihn heran. »Den anderen Ort, den kannst du dir vorstellen wie den tiefsten Keller, wie den Keller unter dem Keller. Es ist dort immer dunkel, es wird nie hell, und die Luft ist so schlecht, dass du glaubst, ersticken zu müssen, aber du erstickst nicht. Nacht um Nacht vergeht, und du wartest, dass es Tag wird, aber es wird nicht Tag. Und die ganze Zeit über wacht der Kapitän über dich, denn er lebt dort unten, an diesem Ort, mit seinen Tieren, Spinnen, die so groß sind wie Hunde. Sie schlafen nie, sie haben tausend Augen auf dich. Niemand, Jasper, kann dich von dort zurückholen.«
Jasper dreht sich von Per fort und hin zur Wand. Er will sich weiter sträuben, sich die Ohren zuhalten, den Kopf in den Armen vergraben und sich schlafend stellen.
»Gut, vielleicht habe ich mich geirrt«, sagt Per ungeduldig. »Vielleicht bist du genau dort, wo du sein solltest.«
Als er sich mit einem Ruck erhebt, fühlt Jasper, wie der Ruck auch durch ihn geht. Er wird mich hier zurücklassen, denkt er, und ist vor Angst so schnell auf den Beinen, dass ihm schwindelig wird und er beinahe zurück auf die Stufen sinkt. Stolpernd folgt er Per den letzten Abschnitt der Treppe hinauf.
Als sie das Oberdeck erreichen, ist das Wasser hinter dichten Nebelbänken verschwunden. Eine grautrübe Schicht hat sich wie milchiges Glas zwischen sie und das Wasser geschoben. »Wir sind bereits auf dem Meer«, sagt Per und wirft einen schnellen Blick auf seine Uhr, bevor er ans andere Ende des Decks deutet. »Siehst du die Aufbauten dort drüben? Das ist die Brücke. Der Schacht befindet sich direkt neben der Tür.«
Jasper peilt noch die verschwommenen Kästen an, als Per bereits eine geduckte Haltung einnimmt und losläuft. Durch den schwach nieselnden Regen folgt Jasper ihm über die rutschigen Planken; neben ihm schlittern Passagiere an der Reling entlang. Als er bei der fensterlosen Rückseite der Aufbauten angekommen ist, will er sich setzen, sich für einen Moment nur in jene Ecken seines Kopfes verkriechen, die warm und geschützt sind, aber Per zieht ihn weiter, lässt nicht los und hält nicht an, bis sie den Schacht erreicht haben. Dort öffnet er die Klappe, und gemeinsam starren sie in die Öffnung, die nicht mehr ist als ein gähnendes, schwarzes Viereck. Keine Leiter ist zu sehen, keine Sprossen oder Tritte sind zu erkennen.
»Wie soll ich dort runterkommen?«, fragt Jasper.
»Du musst springen«, antwortet Per. Unruhig schaut er von Jasper zum Schacht, vom Schacht zur Tür und von der Tür zurück zu Jasper. »Dir kann nichts passieren, ich verspreche es. Aber du musst jetzt springen, der Kapitän, er wird jeden –«
Gerade, als Jasper einen entschiedenen Schritt zurücktritt, die Arme verschränkt und ansetzt, Per zu erklären, dass er nicht und auf keinen Fall in die Dunkelheit springen wird, geht ein Dröhnen durch das Schiff. Es ist ein Laut jenseits aller Jasper bekannten Schwingungen und Frequenzen. Er hört ihn nicht bloß in den Ohren, im Kopf, sondern in den Knochen.
»Der Kapitän«, sagt Per und verpasst Jasper einen Stoß, der ihn zurück zum Schacht stolpern lässt.
Jasper klammert sich am Rand der Öffnung fest.
»Nein. Ich will nicht«, sagt er.
Und dann –
Und dann?
Dunkelt es hinter seinen Augen, schließen sich seine Lider, sinkt er zu Boden. Etwas entweicht, stielt sich zwischen den Lippen hindurch, verflüchtigt sich durch die Nasenlöcher. Mit ihm gehen die Worte und der Atem und die Gedanken und die Erinnerung.
Aus der Höhe, aus weiter Ferne und großer Nähe beobachten wir die Ereignisse, von denen du bereits nichts mehr weißt; das Knäuel der verschiedenen Vorgänge entwirren wir mühsam,
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