Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Schloss steckt, der eine Tür öffnet und eintritt, der bereits erwartet wird, von den Räumen hinter der Tür, von dem Menschen darin.
Einen Moment muss er sich an einer der Maschinen abstützen, bevor er weiterlaufen kann. Er folgt der Spur der verstreuten Objekte, bis er in einen durch die Maschinen abgetrennten Raum gelangt. In seiner Mitte steht ein großer Tisch, bedeckt mit Bauplänen, Zeichnungen und Notizen, daneben ein Stuhl, auf dem eine ordentlich zusammengefaltete, graue Decke liegt. Jasper betrachtet die Pläne. Es müssen Baupläne für das Schiff sein, denkt er gerade, als ihn Schritte herumfahren lassen.
Er könnte nicht sagen, wie er sich Mare vorgestellt hat, nur dass er jemand anderen erwartet hat als die Person, die ihm nun gegenübersteht. Der Mann trägt einen grobgestrickten blauen Pullover, der, genau wie das Radio, schon bessere Tage gesehen hat. Sein Haar ist dunkel, kurz und gelockt, das Gesicht blass und schmal. Etwas an Mare – nicht seine Kleidung, nicht sein Haar, nicht einmal der Ausdruck auf seinem Gesicht – lässt Jasper stocken; es ist eine Unstimmigkeit, und keine, die sich so leicht festmachen ließe. Vielmehr erstreckt sie sich auf Mares gesamte Erscheinung: Je länger Jasper schaut, umso unsicherer ist er, ob er einem Mann oder einer Frau, einer alten oder jungen Person gegenübersteht. Mares Gesicht ist symmetrisch, genau vermessen, doch die Haut scheint zu glatt und wächsern. Aber nein, Wachs ist weich, Mares Haut, weiß, fast grünlich schimmernd, erinnert an Stein, an polierten Marmor. Jasper kann weder Härchen und Poren noch Flecken oder Rötungen entdecken. Vielleicht lässt sich ertasten, was dem Auge verborgen bleibt, denkt er und will auf ihn zugehen, doch Mare schreckt zurück. »Halt«, sagt er. »Das geht nicht.« Er geht zwei, drei Schritte nach rechts, sodass der Stuhl zwischen ihnen steht. »Wo ist Per?«, fragt er dann.
Einen Moment ist Jasper versucht, zu lügen, zu behaupten, er wisse es nicht oder aber, dass er Per nie begegnet sei und den Weg hierher alleine gefunden habe. Doch unter Mares strengem Blick bleiben die Lügen wie unfertiger Teig, weich und formlos.
»Ich habe ihn verloren«, sagt er. »Oben beim Schacht. Er ist mir nicht nachgekommen. Ich glaube, der Kapitän …« Er verstummt, lässt den halben Satz in der Luft hängen, so als gäbe es mehrere Möglichkeiten, ihn zu Ende zu bringen.
Mare schließt die Augen, streicht sich mit Zeigefinger und Daumen über Stirn und Nasenwurzel. Er murmelt etwas, zu leise, als dass Jasper es verstehen könnte.
»Vielleicht konnte er fliehen«, schlägt Jasper vor.
»Nein. Sicher nicht.« Auf die Worte lässt Mare ein kurzes Kopfschütteln folgen. Dann sieht er auf. »Jetzt bist du hier.« Mit einem Nicken bedeutet er Jasper, sich umzudrehen.
Jasper tut wie geheißen und entdeckt ein kleines, wackliges Regal, in dem fleckige, alte Bücher stehen, eine Taschenlampe und eine Thermoskanne.
»Nimm dir Tee«, sagt Mare. »Und eine Decke. Dir muss kalt sein.«
Jasper ist weder kalt, noch steht ihm der Sinn nach Tee, doch Mare spricht so bestimmt, dass er gehorsam nach der Thermoskanne greift. Den ersten Schluck warmen Tees behält er eine Weile im Mund, und als er ihn herunterschluckt, da meint er zu spüren, wie die Wärme durch seinen Brustkorb sickert. Mit ihr breitet sich eine bisher ungekannte Zuversicht in ihm aus: Er ist froh, aus dem Schacht gekrochen und hierhergekommen zu sein. Vielleicht, denkt er plötzlich, könnte er hier unten bleiben bei Mare. Er könnte hier, zwischen den Maschinen und Büchern leben und Mare helfen, er könnte wie Per sein. Zwar würde er sich niemals auf das Oberdeck und in die Nähe des Kapitäns wagen, hier unten aber könnte er die Geretteten, die neu Gefundenen mit Decken und Thermoskanne erwarten.
»Per hat dich also angesprochen?«, fragt Mare in seine Gedanken, und Jasper zuckt schuldbewusst zusammen.
»Ja.« Jasper nickt. Obwohl Per ihn tatsächlich gefunden und angesprochen hat, kommt es ihm vor, als habe er sich durch seine Antwort zum Schwindler, zum Lügner gemacht.
»Du weißt also, wie du heißt, wer du bist, wo du herkommst, du kannst dich an all das erinnern?«, fragt Mare.
Jasper nimmt einen weiteren Schluck Tee, bevor er gedehnt antwortet. »Eigentlich weiß ich nur meinen Namen. Jasper.« Er denkt an sein Herz, das nicht schlägt, an Per, der ihn beinahe auf den Stufen zurückgelassen hätte. Noch ist nichts entschieden, noch kann Mare
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