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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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entflechten die Fäden und legen sie nebeneinander. Wir sehen, dass der Kapitän das Oberdeck betritt und Per seinen Rucksack absetzt. Wir sehen, dass er ein Paar Handschuhe hervorholt. Sie sind aus einem silbrigen, feinen Material. Mit schnellen, geübten Bewegungen zieht er sie über, wie zweite Häute schmiegen sie sich an seine Finger. Diese Silberhände legt er auf deinen Brustkorb und drückt zu. Ein Ruck geht durch deinen Körper. Du reißt die Augen auf und lässt dich von Per aufrichten.
    Der Kapitän ist nur noch wenige Meter entfernt, und endlich erkennen wir ihn als das, was er ist, als Abwesenheit, als den Kern einer gebündelten Leere. Per hebt dich über den Rand der Öffnung. Rücklings fällst du in den Schacht
    und fällst
    und fällst
    und fällst.
    Jasper fällt, Sekunden oder Minuten oder Stunden, und dann verkehrt sich die Bewegung ins Gegenteil. Er steigt auf, spürt, wie er in die Höhe katapultiert wird. Obwohl er versucht, sich mit Füßen und Händen an der Innenwand des Schachtes abzubremsen, nimmt er an Geschwindigkeit zu, wird schneller und schneller und schlägt hart auf.
    Er horcht in sich hinein. Nichts sticht oder pulsiert, er schmeckt kein Blut. Vorsichtig hebt er den Kopf und schaut den Schacht hinauf. Wo ist Per? Müsste der ihm nicht folgen, nicht längst bei ihm sein?
    »Per?«, fragt er in die Finsternis.
    Es bleibt still.
    »Per?«, fragt er, dieses Mal lauter.
    Und als auch weiterhin kein Lärm, kein Poltern oder Rumpeln von Per im Schacht kündet, da versteht Jasper, dass Per nicht schnell genug für den Kapitän gewesen ist. Jasper wird Mare allein gegenübertreten müssen. Doch statt aus dem Schacht zu kriechen, zieht Jasper sich weiter in sein Inneres zurück, er will nichts wissen über das unterste Deck, will nichts mehr wissen von diesem Schiff, das mit immer neuen Gefahren aufwartet. Warum sollte er den Schacht überhaupt verlassen? Er fühlt sich nicht hungrig, nicht durstig, und für den Kapitän ist er hier unten unerreichbar. Er rollt sich zusammen, schließt die Augen und versucht, sich in sich selbst zurückzuziehen, an einen Ort der Träume und möglichen Erinnerungen. Da streift ihn etwas, erst leicht, kaum spürbar, dann mit mehr Nachdruck. Als er aufschaut, ist niemand zu sehen, aber da ist das Flüstern unzähliger Stimmen. Jasper, sagen sie, steh auf, Jasper. Die Stimmen umspülen ihn, dringen in den Schädel und von dort ins Rückgrat, bis ins Blut, in die Knochen und Muskeln. Als er begreift, dass die Stimmen nicht abklingen, sondern immer weiter anschwellen werden, richtet er sich auf.
    Auf dem untersten Deck ist es warm, dunkel und laut. Weil der Raum durch sperrige Maschinen verstellt ist, lassen sich seine Größe und Form kaum erahnen. Dampf und Hitze hüllen Jasper ein. Die Maschinen surren und stampfen. Jasper weiß zu wenig über ihre Mechanik, als dass er erkennen könnte, welche Funktion sie erfüllen. Er sieht große Räder und kleine, Hebel und Kräne.
    Mare sieht er nicht.
    »Entschuldigung?«, ruft er in den Dampf.
    Niemand antwortet, und er beginnt, sich seinen Weg zwischen den Maschinen hindurch zu bahnen. Von Mare ist nichts zu sehen, doch nun entdeckt er einen Gegenstand, der zwischen den schweren, schlichten Maschinen so fremd wirkt, dass er ihn erst beim zweiten Hinsehen erkennt. Es ist ein Radio, notdürftig mit Klebeband zusammengehalten, die Antenne ist abgeknickt. Als Jasper darauf zugeht, setzt ein Rauschen ein. Zwischen den Störgeräuschen hört er einzelne Wortfetzen. Einen Moment zögert er, dann streckt er die Hand aus, um vorsichtig am Regler zu drehen. Obwohl er das Rädchen so behutsam wie möglich verstellt, findet er keine Frequenz.
    Er entdeckt nun weitere Gegenstände, eine verrostete Kerosinlampe, ein Seil. Hier lebt jemand, denkt er, und obwohl er gewusst hat, dass er auf dem untersten Deck auf Mare treffen wird, lässt ihn dieser Gedanke zum Stillstand kommen. Es ist die Vorstellung, dass irgendwo irgendwer zu Hause ist, die ihm überwältigend fremd, ja unglaubwürdig erscheint. Noch immer erinnert er sich nicht an sein eigenes Zuhause, nicht daran, ob er in einem Haus oder einer Wohnung lebte, er sieht keine Küche vor sich, kein Bett, hier unten aber, zwischen den Maschinen stehend, entsinnt er sich zumindest der Möglichkeiten: Es gibt, weit entfernt und für ihn unerreichbar, Häuser und Menschen. Dort draußen wird irgendwer sein, der genau in diesem Augenblick nach Hause kommt, einen Schlüssel in ein

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