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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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beschließen, ihm nicht zu helfen. »Aber ich kann sie hören«, fügt er hinzu. »Die Stimmen. Sie haben mir meinen Namen gesagt.«
    Mare richtet sich auf. »Du hörst sie?«, fragt er.
    »Ja, manchmal. Wer sind sie?«
    Zunächst scheint es, als wolle Mare nicht antworten.
    »Ich nenne sie den Chor«, sagt er schließlich. »Ich weiß nicht viel über sie. Aber sie sind der Grund, aus dem ich hier bin.« Er unterbricht sich, setzt neu an. »Ich komme von der Küste, von dort, wo der Fluss ins Meer mündet.«
    Obwohl Jasper Mare erst wenige Minuten kennt, obwohl er im Grunde nichts über ihn weiß, scheint es ihm folgerichtig, passend, dass Mare aus dieser Gegend kommt, ihn der Nebel, das Wasser und raue Klima hervorgebracht und geformt haben.
    »Ich bin in einem Leuchtturm aufgewachsen. Dort habe ich mit meiner Mutter gelebt«, fährt Mare fort. »Ein paar Meilen weiter landeinwärts lag zwar ein Dorf, aber eine Schule gab es dort nicht, deswegen wurde ich von meiner Mutter unterrichtet. Ich war oft alleine; bis auf meine Mutter und mich gab es niemanden und nur wenig zu tun. Ich konnte lesen. Oder mir das Meer ansehen.
    Zu meinem zehnten Geburtstag schenkte mir meine Mutter ein Funkgerät, das einmal meinem Großvater gehört hatte. Damit hörte ich Funksprüche ab, machte Unsinn. Und dann, eines Nachts, hörte ich zum ersten Mal die Stimmen. Ich dachte, dass ich per Zufall auf eine besondere Frequenz gestoßen sei. Aber damit hatte es nichts zu tun. Nicht ich hatte sie gefunden, sondern sie mich. Sie sprechen zu mir, wenn sie es wollen, nie auf einer bestimmten Frequenz, nie zu einer bestimmten Zeit. Das Funkgerät muss nicht einmal eingeschaltet sein. Sie waren es, die mir von dem Schiff erzählten und von denen, die nicht hier sein sollten, die jemand zurückbringen muss.
    Wenn du sie gehört hast, dann solltest du nicht hier sein. Das ist alles, was ich wissen muss.«
    Jasper seinerseits hat das Gefühl, noch lange nicht genug zu wissen. »Aber wie bist du auf das Schiff gekommen? Haben sie dir geholfen?«, fragt er Mare.
    Mare nickt ausweichend. »So kann man sagen, ja.«
    »Und du wirst mich zurückbringen?«
    »Ich werde es versuchen.«
    »Aber müsste ich nicht wissen, wo ich herkomme, damit man mich zurückbringen kann? Ich habe gedacht … Könnte ich nicht hierbleiben, bei dir? Jetzt, wo Per fort ist, brauchst du jemand Neuen, der dir helfen kann.«
    Kurz scheint Mare über den Vorschlag nachzudenken. Dann sammelt er sich. Als er spricht, gehen ihm die Worte weicher und weniger entschlossen über die Lippen. »Nein, Jasper. Per hat hierhergehört, auf dieses Schiff. Du nicht. Wir müssen die Zeit nutzen, die uns noch bleibt, und dich von hier fortbringen.«
    »Aber du weißt nicht … Mein Herz schlägt nicht«, gesteht Jasper.
    »Fühl deinen Puls«, fordert Mare ihn auf.
    Mehr um Mare nicht zu verärgern, als weil er sich selbst etwas davon verspricht, legt Jasper die Finger an sein Handgelenk. Im selben Moment spürt er den Druck, ein rasches Klopfen, als stemme sich von der anderen Seite ein kleines, quicklebendiges Tier gegen die Haut; ein Pochen, ein Pulsieren geht durch seine Finger und durch den Arm und in Wellen durch seinen Körper. Ihm wird warm, dann heiß; er sackt in sich zusammen. Mit zwei, drei Schritten ist Mare bei ihm, doch statt Jasper aufzuhelfen, setzt er sich neben ihn. »Du wärst sonst gar nicht erst durch den Schacht gekommen«, sagt er.
    Mit Mares Gesicht, stellt Jasper fest, ist es ähnlich wie mit diesen Bildern, die er vor langer Zeit an einem weit entfernten Ort einmal gesehen hat: Je näher man ihnen kommt, umso schlechter ist das Dargestellte zu erkennen. Mare zerfällt und zersetzt sich in ein Feld aus Punkten und Strichen. Mit einem Mal will Jasper ihn berühren, ihn umarmen oder sich umarmen lassen, in diese Umarmung fallen und in ihr die Furcht vergessen, die Angst vor der Reise einem Zuhause entgegen, das er nicht kennt. Er streckt die Hand aus, doch wo seine Finger die grobe Wolle von Mares Pullover ertasten müssten, greifen sie ins Leere. Jasper verliert das Gleichgewicht. Er fällt durch Mare hindurch und kippt vornüber. Für den Bruchteil einer Sekunde zersprengt sich Mare in Millionen Teile. Er sammelt sich ein gutes Stück von Jasper entfernt.
    »Du bist überhaupt nicht hier!«, ruft Jasper und kauert reglos auf dem Boden. »Du bist überhaupt nicht hier«, wiederholt er.
    Wir flattern zwischen den Maschinen hindurch und bis in die entferntesten Ecken des

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