Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
Raumes. Dort kriechen wir tiefer in die Schatten und fühlen uns wie Verräter. Wir haben dich hinters Licht geführt. Es gibt hier niemanden, der dich festhalten kann, niemanden, an dem du dich festhalten kannst. Wir wollen dich trösten; hätten wir Hände, wir würden sie dir auf die Schultern legen, hätten wir Finger, wir würden dir mit ihnen durchs Haar streichen. Die Wahrheit aber ist, dass du allein bist, Jasper, Per ist verschwunden, und Mare war nie hier.
Mare rückt näher an Jasper heran.
»Doch, ich bin hier«, sagt er.
»Bist du nicht«, murmelt Jasper, das Gesicht in den Händen vergraben.
»Jasper, um an diesen Ort zu kommen, habe ich mich in unzählige Einzelteile zersetzen müssen. Ich habe mich aufgespalten und auf der Reise hierher Stück für Stück wieder zusammengesetzt. Jetzt bin ich gesplittert, ich bin in der Schwebe. Deswegen kannst du mich nicht berühren. Für jemanden wie mich ist es unmöglich, tatsächlich auf das Schiff zu kommen. Aber alles von mir ist hier, ich bin ganz da.«
»Für jemanden wie dich?«
Mares Gesicht ist noch zu sehr in Aufruhr, als dass Jasper den Ausdruck darauf deuten könnte.
»Ich bin nicht wie du, Jasper. Wir, die wir noch ganz in der Welt sind, wir können keine Fahrkarte für dieses Schiff kaufen, wir können nicht entscheiden , hierherzukommen. Mit Hilfe der Maschinen«, er lässt die rechte Hand kreisen, malt eine unsichtbare Spirale in die Luft, welche die Maschinen um sie herum einschließt, »bin ich anwesend, bin ich hier, so weit, wie es mir möglich ist. Nur von der Evicon 23 aus kann ich jenen helfen, die nicht hier sein sollten, ihre Flucht in die Wege leiten.«
Jasper deutet auf die Thermoskanne, die Lampe und den Tisch. »Und die Sachen gehören dir? Du lebst hier?«
»Das meiste gehört Per. Und denen, die vor ihm hier waren. Per ist – er war oft hier unten. Man wird einsam auf dem Schiff. Nicht nur, weil man allein ist, weil man mit niemandem spricht, niemanden sieht. Es ist das Schiff selbst. Es macht etwas mit denen, die hier sind. Auch mit Per und den anderen, auch mit mir.«
»Das mit Per – es tut mir sehr leid«, sagt Jasper. Er wartet darauf, dass Mare Pers Verschwinden ein weiteres Mal mit einer nachlässigen Handbewegung abtun wird, doch Mare regt sich nicht, auch sein Gesicht ist nun völlig unbewegt.
»Wo bist du, wenn du nicht hier bist?«, fragt Jasper. »Wo lebst du?«
»Ich bin noch in dem Leuchtturm, von dem ich dir erzählt habe. Meine Familie hat schon immer dort gelebt. Meine Mutter ist vor einigen Jahren gestorben, und wenn ich fortgehen würde, wäre niemand mehr dort. Außerdem – ich weiß nichts über die Städte und würde dort keinen kennen.«
Unwillkürlich denkt Jasper, dass es ihm nicht anders ergehen wird, wenn er erst das Festland erreicht. Er hat niemanden, niemanden zumindest, an den er sich erinnern kann.
Ähnliches scheint auch Mare durch den Kopf zu gehen, denn er fügt hinzu: »Nur weil du dich zurzeit nicht an dein altes Leben erinnern kannst, heißt das nicht, dass es auch so bleiben muss. Warte ab, was geschieht, wenn du dich nicht mehr auf der Evicon befindest. Falls sich nichts ändert, werden meine Freunde dich zum Leuchtturm bringen.«
»Und wir, wir sehen uns dort wieder?«
»Du wirst mich vielleicht nicht gleich erkennen, aber ja, wir werden uns wiedersehen.«
»Du hast gesagt, dass du allein in dem Leuchtturm lebst. Sind die Freunde, von denen du gesprochen hast, hier auf dem Schiff?«
»Nein. Ich lebe schon lange nicht mehr allein in dem Turm. Es kommen immer wieder Menschen, die von mir gehört haben, die helfen wollen. Es ist nicht schwer, den Turm zu finden, wenn man genug von der Welt hat. Wenn man alles zurücklässt und immer weiter die Küste hinaufläuft, dann erreicht man ihn irgendwann. Hinter dem Turm kommt nur noch das Meer.
Die meisten bleiben allerdings nur für ein paar Monate, vielleicht ein, zwei Jahre. Sie sagen, der Wind und das Wasser brächten eine Kälte an den Strand, die sie taub und müde macht. Sie sagen, dass es niemand dort länger aushalten könne, aber ich, ich halte es aus. Meine Familie gehört in den Turm, an die Küste, wir leben seit Generationen dort und sind die Stürme gewohnt, den Regen. Nur meine Mutter früher konnte es nicht ertragen, dass die Zeit stillstand, sich nichts bewegte und alle Tage gleich waren, sich zu einem einzigen langen Wintertag aneinanderreihten. Manchmal vergesse ich, welcher Monat ist, welches Jahr.« Mare
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