Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
Vom Netzwerk:
Finger und Zehen. Er horcht in sich hinein, und es ist still. Was passiert, wenn ich jetzt loslasse?, fragt er sich.
    Wir flüstern mit vereinter Kraft, und weil wir viele sind, hörst du uns laut und deutlich: Mare ist nicht mehr dort unten, sagen wir. Willst du zu ihr, musst du durch diesen Schacht, über dieses Schiff, durch dieses Meer. Da Worte hier nichts weiter nützen, pusten wir dir etwas ins Ohr. Mit bloßem Auge kann man es nicht sehen, so klein ist es. Es fliegt durch die Gehörgänge und entfaltet sich und sickert durch das Kapillarsystem in alle Winkel und Ecken deines Körpers. Und obwohl es ein schönes, ein gutes Gefühl ist, reißt es, zerrt es an dir, brennt sich einen Weg durch deine Adern. Es ist die Erinnerung an einen Ort, an dem du noch nicht gewesen bist, es ist der Gedanke an Mares Leuchtturm, an die Küste und das Land, einen Ort fern der Evicon 23.
    Jasper klettert weiter. Er denkt nicht an Mare oder den Kapitän. Er vergisst das Schiff und das Meer, verliert sich in dem immer gleichen Ablauf: Hand, Fuß, Hand, Fuß. Er selbst wird zur Bewegung und die Bewegung fließend und schnell. Wie schon einmal zuvor, wechseln die Richtungen. Oben wird zu unten, unten zu oben. Fällt er oder steigt er auf? Fliegt er oder stürzt er? Nein, er schießt durch den Schacht, durch Zeit und Raum, durch die Öffnung und hinaus auf das Oberdeck.
    *
    Er kommt auf den nassen Planken zu sich. Der Regen geht nun in Strömen auf ihn hinab, das Deck ist verlassen, die geschlossene Tür zur Brücke gibt sich verschwiegen.
    Langsam richtet sich Jasper auf. Auf Mares Deck hat er nichts von dem Seegang gespürt, die Evicon 23 schien ihm wie unberührt durch die Wellen zu schweben. Hier oben jedoch neigt sich das Schiff von einer Seite zur anderen, gelingt es ihm kaum, ein Gleichgewicht zu finden. Er schwankt auf die Reling zu. Weit unter ihm liegt das Meer. Er späht hinaus, sucht in den Wellen nach einem anderen Boot, nach Mares Freunden, doch bevor er durch den Regen und die Dunkelheit etwas erkennen kann, weckt eine flinke Bewegung seine Aufmerksamkeit. Ein schwarzer, langbeiniger Körper huscht über seine bleichen Hände. Er reißt sie los, schüttelt die Spinne ab und fährt herum.
    Am anderen Ende des Decks steht der Kapitän. Die Luft um ihn flimmert, als strahle er Hitze aus, doch Jasper weiß, dass es große Kälte ist, die er freisetzt. Der Regen gefriert, wenn er auf ihn trifft, legt sich in Eiskristallen auf seine Kleidung.
    Die Zeit dehnt sich, und in ihr steht alles still: Das Schiff in den Wellen hebt und senkt sich nicht, der Regen fällt nicht, jeder einzelne der unzähligen Tropfen schwebt, für einen Moment der Schwerkraft enthoben, an seinem Platz. Und dann, wie auf einen geheimen Befehl hin, setzt sich alles in Bewegung: Der Regen prasselt auf sie nieder, die Evicon steigt in den Wellen auf. Der Kapitän läuft los, und Jasper schwingt sich über die Reling.
    Im freien Fall ist er schneller als die Angst, schneller als jeder Gedanke. Der Himmel und das Meer sind eins; die Grenze, der Ort, wo Luft und Wasser aufeinandertreffen, scheint verschwunden – bis Jasper sie durchbricht und eintaucht in einen Raum, der aus endlosen Reihen spitzer Zähne besteht, einen Raum, der beißt, der ihn vor Schmerz aufheulen ließe, wenn er ihm nicht gleichzeitig den Atem nähme. Im Wechsel leuchtet die Welt auf und erlischt, als schalte jemand tausend Lichter ein und aus. Jemand ruft seinen Namen. Hier, will er zurückrufen und schluckt salziges Wasser, das innen wie außen brennt, auf der Haut und im Mund.
    Er schließt die Augen und spürt etwas, eine Bewegung tief unter ihm, wie sich eine Hand um seinen Knöchel schließt und ihn nach unten ziehen will. Noch nicht, glaubt er jemanden sagen zu hören. Er kommt wieder an die Oberfläche, atmet tief ein und reißt die Augen auf. In das Graublau des Wassers mischt sich eine neue Farbe: ein Flecken Orange. Der Fleck nimmt Form an und Gestalt, wird zu einem Rettungsboot, Trieste steht in schwarzen Buchstaben auf dem Heck. Noch während er sich dem Boot nähert, Zug um Zug, vergisst er, ob er sich in einem Meer oder einem Fluss befindet; er vergisst seinen Namen, vergisst die Evicon 23 und sogar den Kapitän. Es gibt jetzt nur noch das Wasser, die Wellen, die über ihm zusammenzuschlagen drohen, und das Rettungsboot. Ein Lichtkegel erfasst ihn, und er wirft die Arme in die Luft. In dem Boot erkennt er einen glatzköpfigen Mann. Hände greifen nach seinen, ziehen ihn

Weitere Kostenlose Bücher