Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
schüttelte den Kopf.
»Wie?«, fragt er ungeduldig. »Wie komme ich nach oben? Wieder über die Treppen?«
Es erscheint ihm unmöglich, sich erneut durch das Treppenhaus zu kämpfen, dieses Mal ohne Per, der ihn antreibt und ermahnt.
»Nicht über die Treppen. Nein. Du musst denselben Weg hinauf, den du auch heruntergekommen bist.«
»Aber – ich bin durch den Schacht gekommen«, sagt Jasper.
Mare nickt.
»Nein, du verstehst nicht. Es gibt keine Sprossen, keine Tritte. Ich wüsste nicht, wie –«
Mare hebt die Hand. »Hörst du das?«, fragt er. Das Summen und Surren der Maschinen um sie herum ist immer weiter angestiegen. »Das sind die Maschinen, Jasper. Das heißt, dass ich mich bereit machen muss.«
»Bereit machen wofür?«
»Ich verlasse das Schiff mit Hilfe der Maschinen. Und auch für mich ist es nun Zeit, aufzubrechen.«
»Halt. Warte. Kannst du sie nicht einfach wieder ausstellen?«
»Sie werden nicht von hier gesteuert. Ich kann sie nicht an- oder ausstellen, verlangsamen oder beschleunigen. Der Zeitpunkt, zu dem sie die notwendige Energie aufbringen, um mich von hier fortzutransportieren, wurde bereits festgelegt.«
Mare tritt näher an ihn heran, doch dieses Mal verschwimmen seine Züge nicht, im Gegenteil, Konturen und Kanten bilden sich heraus, lassen sein Gesicht in aller Deutlichkeit erscheinen. Ihr Gesicht, denn plötzlich ist Jasper sicher, einer Frau gegenüberzustehen.
»Sie werden dich finden und zu mir in den Leuchtturm bringen«, sagt sie.
Jasper will etwas erwidern, aber Mare schüttelt den Kopf. »Mach die Augen zu«, fordert sie ihn auf, und Jasper schließt seine Augen. Einen Moment geschieht nichts, und dann meint er, es zu spüren, einen kaum merklichen Druck, kühle, fremde Finger auf seiner Haut. Unwillkürlich öffnet er die Augen. Mare ist verschwunden.
»Mare?«, ruft er und seine Stimme überschlägt sich. Er fährt herum, sieht den Tisch, das Regal, Bücher und Pläne. Die Maschinen summen nicht mehr, sie rattern, und in Jaspers Kopf verlieren sich die Worte, noch bevor sie sich zu einem einzigen klaren Gedanken zusammenfinden können. Wohin, wo, wo ist, wo könnte Mare sein?
Die Maschinen, denkt er, der Motor, das Herzstück.
Er rennt an dem Tisch vorbei und zwischen den Maschinen hindurch. Genau in der Mitte des Tanks steht Mare. Von Mares Haar, ihrem Gesicht und ihrer Kleidung lösen sich erste Partikel und treiben im Tank umher.
Jasper rudert mit den Armen, versucht, ihren abwesenden Blick zu fangen. Vergebens. Mare kann oder will ihn nicht sehen; sie verliert bereits an Farbe und Kontur, verschwimmt im Tankinneren. Auch Jasper gerät ins Schwimmen, jedes Gefühl für Richtung und Raum kommt ihm abhanden. »Nein, nein, warte«, schreit er. Und wie schon so oft zuvor überwältigt ihn die Angst, doch dieses Mal ist sie nicht lähmend, nicht betäubend, sie scheucht ihn auf und macht ihn rasend. Er wirft sich gegen die Seifenblasenwand, gleitet nicht hindurch, bringt sie nicht zum Zerplatzen, sondern prallt ab; die Wand hat die Beschaffenheit von Stahl oder Beton. Jasper taumelt zurück. »Warte«, ruft er. »Du musst mir erst noch sagen. Ich muss wissen –«
Mare antwortet etwas, doch weil ihre Stimme verzerrt und undeutlich ist, versteht Jasper sie nicht. Ihr Gesicht zerfällt in einzelne Striche, die Augen rutschen in den Mund, die Nase löst sich auf. Das grüne Leuchten im Tank wird gleißend hell, schmerzt Jasper in den Augen, sodass er sie schließen muss. Als er sie wieder öffnet, ist der Tank vor ihm leer. Das Summen der Maschinen nimmt ab, eine nach der anderen schaltet sich aus. Jasper zieht die Beine an, umschließt sie mit den Armen und denkt an Per, an den Kapitän, an den anderen Ort, Spinnen so groß wie Hunde, er denkt an Mare, an den Leuchtturm, an Mare, die in dem Leuchtturm auf ihn wartet.
Er steht auf.
Jasper kriecht in den Schacht und beginnt, die Wände abzutasten. Schon während er vorsichtig nach Griffen oder Öffnungen, Schaltern oder Knöpfen sucht, ahnt er, dass er nicht fündig werden wird.
Er richtet sich auf. Der Schacht ist so eng, dass er ohne Mühe alle vier Wände berühren kann. Er legt die Hände und Füße an die gegenüberliegenden Wände, stemmt sich ab und versucht, sein Gewicht zu halten. Vor Anstrengung zitternd versetzt er die linke Hand ein Stück nach oben, dann den linken Fuß. Das Gleiche wiederholt er mit rechts. Langsam kommt er voran, doch schon nach kurzer Zeit schmerzen ihm die Arme, die Beine, die
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