Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
aus dem Wasser und aufs Boot, und für einen kurzen Moment sieht Jasper ein anderes Boot, ein fremdes Meer. Er wurde schon einmal aus den Fluten gerettet, denkt er, und es ist sein letzter Gedanke, bevor er wieder beginnt zu vergessen.
Die sechste Geschichte:
Ghostboy
Spukhafte Fernwirkung
Zwei atomaren Teilchen, die sich in einem verschränkten Zustand befinden, ist es möglich, eine Art ›telepathische Verbindung‹ einzugehen. Auch wenn die beiden Zwillingsteilchen voneinander getrennt werden, bleibt die Verbindung bestehen. Die Messung, die an einem der beiden Teilchen vorgenommen wird, wirkt sich über die Distanz hinweg auch auf sein Pendant aus. Diesen Vorgang bezeichnete Albert Einstein als »spukhafte Fernwirkung«.
An Dienstagen muss Ghostboy dreimal sterben. Darum ist die Stimmung von vorneherein nicht gut. Ginge es nach Merwin und Corwin, würden sie Ghostboy weiter im Dunkeln lassen, doch die Zeit drängt: Die Frau ist bereits angereist, in den nächsten Tagen soll sie ihren ersten Auftritt haben. Bis zur letztmöglichen Minute haben sie es hinausgezögert, mit Ghostboy zu sprechen. So schnell wird er ihnen nicht verzeihen, dass er es als Letzter erfährt. Als es so weit ist, verschränkt er die Arme und tritt gegen einen Stuhl. »Aber wieso?«, fragt er.
»Wir brauchen sie«, sagt Merwin.
»Wir haben nur Gutes gehört«, sagt Corwin.
»Sie ist echt«, sagt Merwin.
»Sie kann es wirklich«, sagt Corwin.
»Das hat die Letzte auch behauptet«, wirft Ghostboy ein. »Und die davor. Gekonnt hat es keine.«
»Diese schon«, behaupten Merwin und Corwin einstimmig. Sie wechseln einen Blick.
»Dann gehe ich eben«, behauptet Ghostboy, verrät sich aber schon beim ersten Wort durch unruhiges Mundwinkelzucken. Die Brüder kennen ihn gut genug, um zu wissen, wann er blufft – er wird den Zirkus nicht verlassen. Nicht heute, nicht morgen, wahrscheinlich nie. Andernfalls müssten sie ihre Entscheidung wohl überdenken. Akrobaten und Feuerspucker könnten sie ohne weiteres ersetzen – wo aber würden sie jemanden wie Ghostboy finden? Er ist etwas Besonderes, das wissen Merwin und Corwin. Und Ghostboy, Ghostboy weiß es auch. Die anderen im Zirkus nehmen es ihm nicht übel, dass er sich für etwas Besseres hält. Möglich, dass sie seine Überzeugung teilen, möglich, dass sie ihn bloß bemitleiden. Niemand hier würde mit ihm tauschen wollen.
Weil Ghostboy gern für sich ist, steht sein Wagen ein wenig abseits der anderen. Eine Zeitlang war er mit den beiden Trapezkünstlern Ira und Carlos befreundet, aber es ging nicht lange gut. Überhaupt geht nie etwas lange gut mit Ghostboy.
Ein Teil der anderen hofft noch immer, dass er eines Tages seiner Wege zieht. Doch seitdem Ghostboy das erste Mal ankündigte, den Zirkus nun ein für alle Mal zu verlassen, sind Wochen, Monate und Jahre verstrichen, und inzwischen haben die meisten verstanden, dass er nicht verschwinden wird; vielleicht und vor allem, weil er nicht wüsste, wohin er gehen sollte.
Ghostboy ist bei weitem nicht der Einzige, der nirgendwo anders als in Merwins und Corwins Zirkus ein Zuhause finden würde. Etwas aber unterscheidet ihn, grenzt ihn selbst von dem geschuppten Jungen und von der Frau, die durch Glas gehen kann, ab. Aus der Ferne mag er wie ein gewöhnlicher junger Mann erscheinen, und auch wenn er langsam näher kommt, lässt sich zunächst kein offenkundiger Mangel entdecken. Er ist vielleicht ein wenig blass, scheint kränklich und nicht sehr robust. Doch die fahle Haut und die dunklen Schatten unter den schläfrigen Augen lassen sich so auch bei jenen feststellen, die täglich in die Minen der Unterstadt hinabsteigen und die Dunkelheit mit sich hinaufbringen, um sie in ihren Körpern bis in die entferntesten Ecken des Landes zu tragen.
Erst wenn die Entfernung zu Ghostboy nur noch ein, zwei Meter beträgt, verschiebt sich etwas. Die Veränderung lässt sich nicht recht greifen, sie ist unangenehm auf eine schleichende Weise, ähnlich einem schlechten Geruch, der aus den Ritzen kriecht. Nur riecht Ghostboy nicht schlecht. Und auch nicht gut. Er riecht überhaupt nicht. Während er Platz nimmt, schaut man sich betreten um, und es ist ein wenig so, als sei ein böses Wort gefallen, eine Beleidigung gesprochen worden. Obwohl Ghostboy bloß stumm dagesessen hat, meint man, er habe eine unerfreuliche Wahrheit in die Welt hinausposaunt.
Der Zirkus reist von Stadt zu Stadt, und es dauert nie lange, bis Ghostboy sich Feinde gemacht
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