Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
wegen ihm, Ghostboy.
»Sie wird Schwierigkeiten machen«, murmelt er.
Eine Weile hängen sie ihren Gedanken nach. Merwins kehren zurück zum letzten der letzten Clowns und den guten alten Zeiten. Ghostboy malt sich aus, wie die Fremde vor wenigen Stunden im Publikum saß. Die Vorstellung reizt ihn, wie ein lästiger Schmerz, ein dumpfes Pochen in den Schläfen, ein Ziehen in den Muskeln.
»Wieso habt ihr sie zuschauen lassen?«, fragt er und reißt Merwin aus seinen Gedanken.
Unsicher breitet Merwin die Arme aus. Jeden Nachmittag sehen Hunderte Ghostboy beim Sterben zu, und Ghostboy hat den Brüdern wieder und wieder versichert, dass er sich nicht störe an den aufgerissenen Augen, den gereckten Hälsen. Warum, fragt Merwin sich – und Ghostboy stellt sich dieselbe Frage –, warum macht es einen Unterschied, dass Ghostboy den einen Moment, der den gemeinen Zuschauer etwa so viel kostet wie ein Stück Zuckerwatte, mit einer weiteren Fremden teilen musste?
Noch in derselben Nacht begegnen sie einander zum ersten Mal. Er sieht sie vor dem Riesenrad stehen, wo sie auf jemanden zu warten scheint – vielleicht auf Corwin, der ihr ihren Wagen zeigen soll. Sie steht inmitten der Kinder und Männer und Frauen, die noch nicht nach Hause gehen wollen und nach neuen Ablenkungen suchen. Sie steht inmitten der Menschen, und er erkennt sie gleich. Während alle in Bewegung sind, wartet sie regungslos und sticht hervor, wie ein Mensch zwischen Puppen, wie ein sauber gezeichnetes Bild zwischen verwischten Schatten. Ein staubiger Schleier legt sich über die vorbeieilenden Menschen und lässt sie vage und ungefähr erscheinen. Nur die Farben der Frau bleiben eindeutig: Ihre Haut ist weiß, ihr Kleid schwarz. Es ist aufwendig geschneidert, lässt Ghostboy an alte Königinnen und Beerdigungen denken. Ob es raschelt, wenn sie sich bewegt? Die Frau selbst ist groß, ein gutes Stück größer als Ghostboy. Obwohl ihre Taille schmal ist, scheint sie weder zerbrechlich noch zart, sondern robust und so, als sei sie aus Draht und Eisen gefertigt.
Während sie sich gegenüberstehen, rauschen die Menschen zwischen ihnen hindurch wie Störgeräusche. Ghostboy löst sich und geht raschen Schrittes auf sie zu, ohne darüber nachzudenken, was er sagen will, wenn er sie erreicht hat. Als er vor ihr steht, schluckt er, verschluckt sich und hustet. Nun, weiß er, wird er nicht und auf keinen Fall mit ihr sprechen können.
Ihr Gesicht ist so still und unbewegt wie ihr Körper. Und weil der Ausdruck darin nichts preisgibt, kommen Ghostboy Zweifel. Erkennt sie ihn denn nicht? Aber die Nachmittagsvorstellung liegt erst wenige Stunden zurück, und so schnell vergisst niemand Ghostboy.
»Martha«, sagt Martha und reicht ihm die Hand. »Aber das weißt du schon.«
Er nickt nicht und greift nicht nach ihrer Hand. Stattdessen öffnet er den Mund und schließt ihn wieder, will ihr sagen, dass sie nichts in dem Zirkus verloren hat, erst recht nicht in seiner Vorstellung. Gleichzeitig spürt er, wie sich unter der Wut etwas sammelt und verdichtet. Wenn er nicht aufpasst, die Lippen fest verschlossen hält, dann wird es hervorsprudeln und er ausrufen, wie froh er ist, wie erleichtert, dass sie ihn gefunden hat. Denn in diesem Augenblick will Ghostboy zweierlei:
Er will ihr einen Stoß verpassen, sie an den Haaren vom Gelände ziehen.
Er will sie umarmen, will sich an ihr festhalten.
Er tut dann keines von beidem, sondern dreht sich um und rennt davon, hastet vorbei an Zelten und Wagen, vorbei am Zuckerwattestand und vorbei an dem geschuppten Jungen, dessen Haare fliegen, als er den Kopf dreht und ihm nachschaut. Erst als Ghostboy bei seinem Wagen angekommen ist, bleibt er stehen. Seine Hände zittern, als er die Tür öffnet. Er wirft sie hinter sich ins Schloss und rutscht zu Boden. Würde sein Herz noch schlagen, dann schlüge es wild.
Zwei Wochen zuvor
Es ist dieser Tag, genauer: Es ist dieser Abend, genauer: Es ist diese Stunde.
Martha sitzt an ihrem Tisch vor dem Spiegel und kämmt ihr Haar, weil sie sich in keiner Bewegung so schnell verliert wie in dieser. Sie erwartet noch zwei Klientinnen für den Abend, und die übliche Unruhe überkommt sie. Weil es manchmal gut geht und manchmal nicht, ist Martha vor jeder Sitzung angespannt. Denn Martha weiß nichts von Tricks und Illusionen. An schlechten Abenden bleibt ihr nichts anderes, als die Achseln zu zucken und entschuldigend zu lächeln. Nur wenn es auch etwas zu sehen oder zu hören gibt,
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