Das Fremde Meer: Roman (German Edition)
sind ihre besonderen Augen, ihre besonderen Ohren von Nutzen, kann sie die geheimen Bewegungen und Schwingungen wahrnehmen.
Den Klientinnen hat sie versucht, es so zu erklären:
Es kommt über mich, hat sie gesagt, wie ein Fieber, ein Schmerz, ein Krampf. Es ist so, als erkranke man schwer, innerhalb weniger Sekunden, als durchlebe der Körper unterschiedliche Jahreszeiten, erst Sommer, dann Winter und umgekehrt. Diesem Gefühl kann Martha sich nur hingeben und versuchen, es zu halten.
Sie legt die Bürste zur Seite und die Hände auf den Tisch. Mit den Fingern streicht sie über die glatte Oberfläche. Zunächst horcht sie in sich selbst hinein, dann in den Raum. So zumindest erklärt sie es den Klientinnen. Sie spricht vom »Horchen« und »Lauschen«, als ginge es um Geräusche und die Ohren. Nur sind es nicht ihre Ohren, mit denen sie den Raum abhört, nicht die Hände, mit denen sie ihn abtastet, nicht die Nase, mit der sie das Fremde riecht, nicht ihre Augen, mit denen sie es sieht. Es sind unsichtbare Fühler, die sie ausstreckt. Und um fündig zu werden, muss sie jeden störenden Gedanken aus dem Weg räumen, sich nicht ablenken lassen von unbezahlten Rechnungen, den Krankheiten der Katzen, den Schritten der Nachbarin draußen auf dem Flur. Wie Schmutz rieseln die Momente des Alltags auf sie hinab, trüben ihren Blick, verstopfen ihre Gehörgänge. Um klar und wach zu sein, muss sie sich leer machen, tief ein- und ausatmen.
Für gewöhnlich dauert es einige Minuten, bis sich etwas tut, doch an diesem Abend spürt sie es nach ein, zwei Herzschlägen. Hinter geschlossenen Lidern lässt sie die Augen wandern und nimmt ein grünes Glimmen wahr. Sie fühlt Widerstand, und kurz ist sie erleichtert, weil sie weiß, dass sie sich nicht mehr um die anstehende Sitzung sorgen muss. Das Signal ist deutlich und klar, und sie wird keine Schwierigkeiten haben, es auch in der nächsten Stunde wiederzufinden, nein, sie wird es nicht einmal loslassen müssen, sondern halten können, bis die Klientinnen kommen.
Sie steht auf und sieht sich in dem unaufgeräumten Zimmer um. Der Tisch ist mit Zeitungen und Briefen bedeckt, der Boden mit Jacken und Schuhen. Die Klientinnen verstehen zwar, dass es um das geht, was den Augen verborgen bleibt, doch achten sie auch auf das, was sie sehen können. Eine Zeitlang war es Mode, die Sitzung in schummrigen, mit Tüchern behangenen Kammern abzuhalten, eine Glaskugel auf dem Tisch, den benebelnden Geruch von Räucherstäbchen in der Luft. Heutzutage erkennt man die Seriosität eines Mediums bereits an den Räumlichkeiten. Marthas Zimmer sind hell und übersichtlich – keine Decke über dem kleinen Tisch, keine Fäden in der Luft, an denen Martha ziehen und Gegenstände durch den Raum schweben lassen könnte. Martha hat sich bloß eine einzige Extravaganz erlaubt: ihre schwarzen Katzen, sechs an der Zahl.
Gerade will sie zwei der Katzen vom Esstisch scheuchen, als das Gefühl wie Nebel in ihrem Schädel aufsteigt, es hinter ihren Augenlidern zu dämmern beginnt. Sie schüttelt sich leicht, der Nebel aber bleibt haften. Noch nicht, spricht sie lautlos, es ist zu früh. Doch da drückt sie die unsichtbare Gewalt bereits in den Stuhl, presst ihre Hände flach auf die Tischplatte. Sie schaut auf ihre Finger, jeder einzelne scheint mit einer unsichtbaren Nadel aufgesteckt. Durch die Platte geht ein Zittern. Auch der Boden unter Marthas Füßen bebt. Sie drückt die Absätze ihrer Schuhe in den Teppich, auf der Suche nach Widerstand, doch die Welt hat ihre Festigkeit verloren, und Martha ihren Halt. Die Wände, der Boden, Stein und Holz werden zu Wasser, und sie geht unter.
Martha wird zum freischwebenden Herz, das aufgeregt schlägt, wird zu zwei Augen, die schauen und etwas sehen, jenseits der Worte, der Farben und Formen. Dann schälen sich zwei Namen aus dem Gewirr, Corwin und Merwin in roter Schrift auf einem schmutzig weißen Zirkuszelt. Für ein, zwei Atemzüge bleibt Martha in dem verwaschenen Weiß hängen, dann geht es weiter, rasend schnell vorbei an Elefanten, Feuerringen, fliegenden Frauen in leuchtend grünen Kostümen, vorbei am gesichtslosen Publikum, an lachenden und weinenden Kindern; und weiter nach draußen: zu Zuckerwatte und Menschenschlangen; und dort auf das Karussell. Halt!, will sie rufen, die Menschen aber eilen weiter und gewinnen noch an Geschwindigkeit. Martha ist umgeben von Haaren und Ohren und Augen. Zunächst hört sie noch Gesprächsfetzen, dann auch das
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