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Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Das Fremde Meer: Roman (German Edition)

Titel: Das Fremde Meer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Hartwell
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hat. Wenn er abends mit den anderen loszieht, um sich in den Gaststätten oder auf den Straßen zu betrinken, ist es immer nur eine Frage der Zeit, bis es zu den ersten Auseinandersetzungen kommt. Die Städter schauen ihn an und wissen: Hier stimmt etwas nicht. Sie spüren ihn wie einen Splitter, einen Stachel tief in der eigenen Haut.
    Am Abend erfährt Ghostboy, dass Corwin und Merwin ihn nicht nur vor vollendete Tatsachen gestellt, sondern darüber hinaus gelogen haben. Die Frau, deren baldige Ankunft man ihm angekündigt hat, ist bereits auf dem Gelände.
    »Sie war sogar in der Nachmittagsvorstellung«, sagt der geschuppte Junge beiläufig und fährt sich mit einer schimmernden Hand durchs farblose Haar.
    Also hat sie ihn bereits sterben sehen, begreift Ghostboy, und die alte Wut packt ihn. Wie immer ist sie allumfassend und Ghostboy nicht bloß auf die Frau wütend, sondern auf alle und alles: den Zirkus, den Tank, den Tod, die vergangenen Jahre und die kommenden und wie sie sich kaum voneinander unterscheiden werden.
    Bevor er sich versieht, ist Ghostboy über den Platz und bis zum großen Zelt gelaufen. Es geschieht wie ohne sein Zutun, dass er vor den Brüdern steht und große Worte brüllt, von Verrat und Hinterhalt, von Beleidigung und Unverzeihlichem. Und schon stapft er wieder davon, über schlammige Erde und durch Pfützen bis zu seinem Wagen. Er fühlt die besorgten Blicke der Brüder im Rücken und schlägt die Tür hinter sich zu, ohne sich umzudrehen.
    Im Dunklen wartet er auf Merwin. Corwin mag der ältere der beiden Brüder sein, doch ist es allein Merwin, der Ghostboy immer wieder zur Vernunft bringen, ihn immer wieder beruhigen kann. Denn es war Merwin, der Ghostboy vor vielen Jahren aus dem Meer zog, ihn in sein Boot hievte und ihm das Wasser aus den Lungen klopfte. Es war Merwin, der den leblosen Körper hielt, der sich bereit machte, zu trauern um den Jungen, dessen Herz nicht mehr schlug, stillstand, gut zehn Minuten. Es war Merwin, der Ghostboys Augen schloss, und Merwin, der beinahe rücklings aus dem Boot fiel, als Ghostboy sie wieder aufschlug.
    Gut fünf Jahre ist es her, dass die Brüder Ghostboy den Schlüssel zu seinem Wagen überreichten, ihm eine kleine Rede hielten über die Zukunft und den Zirkus, das Sterben und das Leben. Nun habe er ein Zuhause gefunden, erklärten sie ihm, etwas, das ihm allein gehöre. Merwin tritt durch die Tür und sieht sich kopfschüttelnd um. Dieser Wagen ist niemandes Zuhause, sicher nicht Ghostboys. Er hat die Einrichtung des Clowns, der vor ihm in dem Wagen lebte, behalten, seine heruntergekommenen, abgenutzten Möbel, die verschmutzte Küche. So kann er sich weiter als ein Besucher fühlen, als einer, der jederzeit weiterziehen könnte.
    Merwin setzt sich in einen fleckigen Sessel und streicht über den ockerfarbenen Bezug. Wenn er an den letzten der letzten Clowns denkt, wird er stets ein wenig melancholisch. Dann besinnt er sich auf den Grund, aus dem er Ghostboy gegenübersitzt. »Was hast du gegen die Frau?«, fragt er.
    Statt zu antworten, verschwindet Ghostboy in der kleinen Küche, wo er Tee aufsetzt, die Stirn runzelt und sich über sich selbst wundert. Was hat er gegen die Frau? Ghostboy weiß es nicht.
    »Wir brauchen niemand Neuen«, sagt er und stellt eine Teekanne vor Merwin auf den Tisch. Schon seit Jahren sträubt er sich gegen jeden Neuzugang. Die Alten ärgern ihn schon genug, da müssen nicht auch noch Fremde dazukommen. »Wir haben genug Leute. Und sie lügt, wenn sie sagt, dass sie ohne Tricks arbeitet.« Die Wut stiehlt sich in seine Stimme zurück.
    Merwin nickt ein Kopfschütteln. »Wahrscheinlich kann sie es nicht wirklich. Und? Wenn sie so gut ist, wie alle sagen, macht es keinen Unterschied. Und wenn sie nicht gut ist, dann schicken wir sie wieder fort. Das ist alles.«
    Ghostboy verschränkt die Arme und will eine harsche Antwort geben, nur fällt ihm keine ein – Merwin hat recht. Ob es sich bei der Frau um eine Hochstaplerin handelt oder nicht, ist nicht sein Problem. Es kann ihm gleich sein, ob jemand eingestellt und gegebenenfalls wieder entlassen wird. Mit den meisten hier hat er ohnehin nichts zu tun. Doch gibt es da etwas, das Ghostboy weder sich selbst noch Merwin erklären kann. Er kennt die Frau nicht, hat sie noch nie gesehen, aber als er ihren Namen das erste Mal hörte, da fuhr er ihm wie ein Schreck in die Knochen. Sie ist wegen mir hier, dachte er. Nicht wegen des Zirkus, nicht wegen des Geldes, sondern

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