Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
wir, wie die seelischen Kräfte eine solche Erzählung lesen? Narbenbildung, Fallhöhe. Die Seele liest das durch jede Kostümierung.
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Arbeitszeitmesser A. Trube zu Liebe, Macht und dem Unterschied von Zeitabläufen im 17. und 21. Jahrhundert
Der Arbeitszeitmesser A. Trube, früher tätig für einen in der Wirtschaftskrise von 2009 insolvent gewordenen Betrieb in Bockenheim, hat Volkshochschulkurse besucht und kam so in Kontakt mit Romanen. Seither untersucht er das zeitliche Gefüge in literarischen Texten: Oft könne eine geringfügige Zugabe an Zeit eine Handlung in eine ganz andere Richtung lenken.
Den französischen Staatspräsidenten Sarkozy und dessen Ehefrau Carla Bruni konnte er bei Spiegel online zwei Tage aus Anlaß der Nato-Feiern am 4. April 2009 in Baden-Baden und Kehl beobachten. Wieviel Zeit steht dem Präsidenten für die Gepflogenheiten seiner Ehe zur Verfügung? Er verglich die zur Verfügung stehende Zeit mit dem Zeitaufwand in der Liebesbeziehung der Prinzessin von Clèves und dem Herzog von Nemours bei ihrem (jeweils für den anderen rätselhaften) Treffen in Coulommiers. Die Textstellen kannte er aus dem Volkshochschulkurs »Einführung in die französische Literatur des 17. Jahrhunderts«.
Dies entsprach nach seiner Messung einem Aufwand von 92,5 Stunden, erforderliche Schlafenszeit in einer solchen Zeit emotionaler Unruhe unberücksichtigt, nur um in der Nähe des anderen herumzuschleichen bzw. im geschlossenen Zimmer sich vor ihm zu verbergen. Sie seien, erwähnt Trube, nicht einmal zum Vollzug eines Liebeserlebnisses gelangt, sondern hätten in einem für die Beziehung imaginierten Gedankenraum ihre Zeit vertrödelt. Für ein modernes Herrscherpaar stünde heute nirgends soviel Zeit zur Verfügung. Die Staatsgeschäfte gestatten keinen Urlaub, da schon eine Sekunde nach Ankunft ein unerwartetes Ereignis alle privaten Pläne zerschlägt, ja Telekommunikation die Gegenwart schrittweise einengt und zuletzt aufhebt. Zeit aber, so Trube, sei das Gelände der zärtlichen Kraft.
Trube weist hier auf einen weiteren Volkshochschulkurs »Kaiser Napoleon privat« hin. Die Zeit, habe der vertrauenswürdige Referent betont, sei seit der Französischen Revolution durch Beschleunigung charakterisiert gewesen. Napoleon habe als Herrscher in den neun Jahren von 1799 bis 1808 nur während des winterlichen Zwangsaufenthalts auf Schloß Finckenstein, in einer kurzen Periode also, für die nötige Umständlichkeit, die eine Liebesaffäre erfordert, den Atem gehabt. Die Verliebtheit sei zwar auch über ihn als Blitz, als plötzliche Gewißheit, hereingebrochen. Der entsprechend raschen Gegenreaktion der Gräfin Waleska sei in diesem Fall ein zeitlicher Nachschlag gefolgt, in dem Körper und Seele der beiden den Anschluß an die heftige Explosion gewonnen, sozusagen den Nachholbedarf gedeckt hätten. Erst dies, so Trube, ermögliche seiner Kenntnis nach eine gemeinsame Erfahrung von Dauer, Wiederholbarkeit und Anknüpfungsmöglichkeit bei einem Wiedersehen.
Eine solche Glückszeit war dem eiligen Napoleon später nie mehr möglich. Der Volkshochschulreferent hatte die Erinnerungen Napoleons, die dieser auf Elba niederschrieb, zur Lektüre empfohlen. Sofern Trube nur die Zeitabläufe verfolgte, die rechtfertigenden und ausschmückenden Passagen wegließ, ergab sich eine deutliche Übersicht über Mangelzeit. Um die Konsequenz daraus zu ermitteln, zog Trube andere Quellen heran. Sie waren unter Stichworten auffindbar in der Universitätsbibliothek Frankfurt. Vom Diktat (meist diktierte er mehreren Sekretären gleichzeitig) wurde der Herrscher in ein Nachbarkabinett gerufen, wo die vom Adjutanten ausgewählte oder durch einen Hinweis des Kaisers bestimmte junge Frau bereits wartete. Mit wenigen Zurufen »bestrickte« der mächtige Mann ein solches Lebewesen oft unter Hinzufügung einer kurzen, witzigen Bemerkung. Es blieb aber kaum Zeit, daß sich eine natürliche Reaktion im Körper der Frau heranbildete. Nach Ejakulation, das Glied schmerzte, weil es trockengerieben worden war, eilte Napoleon ins Arbeitszimmer zurück. Er wiederholte diese – nach Trubes Meinung unsinnige – Praxis, weil er, nach Zeugnis des Generals Coulaincourt, gehört hatte, daß eine solche Art der Liebesbeziehung gut für die Gesundheit sei; jedenfalls glaubte er, daß es schädlich wäre, wenn Kontakte dieser Art vollständig unterblieben.
Der Schein der Plötzlichkeit ...
Liebe trifft wie der Blitz, sagte die erfahrene
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