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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Militärpaß eines gefallenen Kameraden) eintragen. Schon winkte ein neues Leben. Während sich doch im Augenblick des Aufbruchs im Führerbunker das vollständige Ende eines Zeitalters, einer Wirklichkeit, gezeigt hatte. Er war auf eine Wand zugeschritten und in ein paralleles Universum gelangt.
    Nichts holte ihn ein von dieser Vergangenheit, als er denunziert und verhaftet wurde, ein halbes Jahr später. Auch das Gefangenenlager war »Neuanfang«, in dem Englischkurse abgehalten wurden.
Absturz aus einer »Unwirklichkeit« in eine andere
    Der Pilot des Führers, Kapitän Baur, verfügte am 30. April 1945 auf einem Flugplatz in der Nähe von Berlin noch über 16 Maschinen der Flugstaffel, die zum Führerhauptquartier gehörte. Auch ein Wasserflugzeug, zu seiner Verfügung, wasserte auf der Havel. Er hätte sich in Deutschlands Süden in Sicherheit bringen können, auch weil Hitler es ihm anbot, wollte andererseits den Dienstherrn nicht vorzeitig verlassen. Hätte er gewußt, daß Hitler sich noch am selben Nachmittag erschießen würde, hätte er vielleicht den Entschluß anders gefaßt.
    Die Beteiligten im Führerbunker, entnervt durch einen Zeitablauf, der ereignisreich erschien und doch aus Wartezeit bestand, waren zu diesem Zeitpunkt vielfach betrunken. Das erschwerte rasche Entschlüsse zusätzlich. Dann scheiterte am anderen Tag der Ausbruch nach Norden über die Spree. Baur wurde gefangengenommen und einige Wochen später als Pilot des Führers von Zeugen erkannt und in Verhöre verstrickt. Zehn Jahre lang arbeitete er in Sibiriens Gefangenenlagern. In wenigen Tagen war er an der Schwelle vom April zum Mai, als wäre es durch die Walpurgisnacht verursacht, aus seiner privilegierten Machtstellung, die er innehatte (als Kommandeur der letzten Flugzeuge, mit denen einer die Festung Berlin verlassen konnte), in eine »Unwirklichkeit« gestürzt, in der weder die Regeln des fliegerischen Handwerks noch die des Krieges, noch neue Regeln galten, ein barbarischer Zustand. Als er 1958 nach Hause zurückkehrte, schlief er wochenlang auf dem Holzboden des ehelichen Schlafzimmers: so ungewohnt war ihm »das normale Liegen im Bett«.

    Abb.: Arbeitslager mit deutschen Kriegsgefangenen in Rußland.
Die Rückholung der Männer
    Die Russen besaßen vermutlich Spione in unserer Delegation. Wir hatten auf deren Seite überhaupt niemanden. Dafür besaßen wir unseren analytischen Verstand. Noch immer ist die deutsche Führungskunst der sowjetischen überlegen. Wir waren wie Romanautoren tätig. Es blieb uns ja nichts anderes übrig, als uns die Gehirne unserer Gegenüber vorzustellen.
    In den Morgenstunden der Verhandlung waren diese Gegenüber offenbar noch nicht tagaktiv. Die künstliche Luft, der grünfilzgeebnete Verhandlungstisch, die Auswahl an Mineralwasserflaschen aus dem Kaukasus brachte keine Welt in diesen Kremlsaal. Ich beobachtete unseren Bundeskanzler, der diese Flut von Verhandlung professionell aussaß. Er schien die Erwartung zu haben, daß es mit Fortschreiten des Tages einen Durchbruch im Denken der Gastgeber geben würde. Er besaß eine ungefähre Vorstellung von dem, was sie von ihm wollten. Er wußte, was er dafür zu konzedieren bereit war.
    Im weißrussischen Bahnhof stand der Zug, der die Delegation nach Moskau gebracht hatte, abfahrbereit unter Dampf.
Ein Fall von Nationbuilding in der Familie
    Aus dem Zweiten Weltkrieg kam Studienrat Hans-Georg Hartenstein, Major der Reserve, ohne Erzählstoff zurück, wenigstens erzählte er seiner Familie nichts vom Erlebten. Er erklärte sich zu nichts, was er seit 1935 getan hatte. Zehn Jahre seines Lebens blieben in Schweigen begraben.
    Später entdeckte der zweite seiner Söhne, daß der Vater, der stets Distanz zum Hitler-Regime angedeutet hatte, seit 1943 als Parteimitglied eingetragen war, dem Zeitpunkt eines Genesungsaufenthalts an der Universität Straßburg. Die Beziehung zu den Söhnen litt stark. Hartenstein besaß nie mehr die Stellung eines Vaters, wie er sie selbst aus seinem Elternhaus kannte.
    Der älteste der Söhne, längere Zeit im Vorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes ( SDS ), wurde Bundestagsabgeordneter und Historiker. In beiden Berufen hatte er kaum Chancen, radikale Auffassungen auszutragen, die er doch in sich fühlte. Ihm war das VERSAGEN DES VATERS nicht gleichgültig. Darüber hinaus bekümmerte ihn die lächerliche und von der Realität der übrigen Welt widerlegte Bemühung großer Deutscher im 19. und

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