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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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ersetzen? fragte er die Ärzte, nachdem er die Klinik gewechselt hatte, in der Hoffnung auf bessere, zumindest höflichere Antworten. Was hält der Fortschritt in den USA in solchen Fällen bereit? Angst wollte er nicht zeigen.
    Zorn zeigte er vor. Es nutzte ihm nichts, daß er die ärztliche Zunft als ganze für inkompetent erklärte. Von diesen Tagen an aß er nichts mehr. Die, welche ihn liebten, bereiteten aus Biohühnern leichte Gerichte. Zwei Happen nahm er, den Rest wies er zurück. So gelangte er in die Ostertage, in denen nichts Zusätzliches organisiert werden konnte. Immer erneut Regen, der über den See peitschte. Das Himmelswasser schien die Tendenz zu haben, auf der Mitte des Sees die Richtung nach Westen zu verlassen und aggressiv auf sein Haus zu nach Norden zu schwenken. Mehrmals körperlicher Zusammenbruch, Abmagerung, Besuch derjenigen, welche die Nachricht von der finalen Diagnose erreicht hatte. Nun fiel die täuschende Gesundheit als Markenzeichen seines Charakters, das eines »Glücksprinzen«, von ihm ab. Er sah das im Spiegel, auch in den Augen seiner Vertrauten. Da mußte er doch lachen, weil es ihn an einen Effekt im Barocktheater erinnerte, wenn die Schönheit ihren Fächer von ihrem Gesicht wegzieht und ein Skelett den Zuschauer anblickt, weil die Schauspielerin eine solche zweite Maske trägt. Immer noch war er dem Leben zugetan, nur die Ärzte empörten ihn. Noch war er sicher, daß es in der Welt einen Ausweg für ihn geben müsse. Allerdings war er zu sachlich, um auf Heilversprechen, alternativ zur Medizin, die sich in Fachblättern und im Internet fanden (und auf die Freunde ihn hinwiesen), zu vertrauen. So zögerte er, in die Anden zu reisen, wo eine Adresse vielversprechend klang.
    Das war seine »letzte Regierungszeit«. Nachträglich betrachtet, bestand sie aus den 50 Tagen zwischen Ostern und Pfingsten. Zuletzt hoffte er schon nicht mehr. Es ging ihm nur noch darum, die gesammelten Kunstschätze, an denen sein Herz hing, und die materiellen Mittel, über die er verfügte, auf die Enkelin, den Sohn, die nächsten Verwandten im Clan, seiner genauen Empfindung nach zu verteilen. Gerecht wollte er bis zuletzt sein: verantwortlich gegenüber der Sympathie, die wegen des geschwächten Zustands aufgrund der Krankheit in ihm wechselte. Er ließ Bilder aus seinem Besitz in sein Klinikzimmer hängen. Er sah wohl, daß die Behandlung durch die Ärzte palliativ war; auch gab es schon Opiumgaben. Daß er sich darüber beschwert hatte, bereute er gleich darauf, denn jetzt erhielt er eine aktive Chemotherapie. Die ließ das durch Infusionen gerade wiederhergestellte Gleichgewicht des Körpers ganz zusammenbrechen: auf den Zustand hin, wie der Arzt sagte, der seit zweieinhalb Jahren bereits bestand und nur durch sein den Ärzten unbegreifliches Äußeres verdeckt wurde, den GLÜCKSPELZ , der ihm von der Mutter mitgegeben war.

    Abb.: Ich (rechts) neben Peter Schamoni (links), dem Vorbild des Lebensläufers Manfred Schmidt.
    → Manfred Schmidt, Chronik der Gefühle , Band II , S. 748-769.
    Auf dem Friedhof des Ortes am Nordufer des Sees war, in der Erwartung von Regen, ein Plastikdach vor der Gedenkhalle aufgestellt. Es hätte im Ernstfall die Menge der Gefolgsleute, die an der Trauerfeier teilnahmen, vor einem Unwetter nicht schützen können. Am weiten Himmel aber nirgends dunkle Wolken. Jeder, der ihn liebte, hatte für die Erdbestattung seinen Einfall beigefügt. Ein Lied von Robert Schumann an die Kunst, ein weiteres Lied von Henry Purcell. Die Sängerin intonierte die traditionelle Musik mit der präzisen, die Einzelheit skandierenden Methode aus dem Pierrot Lunaire von Schönberg. Gewissermaßen bürstete sie den Totengesang »gegen den Strich«. Das war nicht im Sinne des Toten, der war kein Modernist, aber es ehrte ihn vor den Gästen, die plötzlich zu bemerken glaubten, was sie an ihm gehabt hatten. Nach den Reden rollten die Friedhofsbeamten den einfachen Holzsarg, der auf einen Wagen geladen war, aus der Kapelle ins Freie. Ein Trompeter bewegte sich in einiger Entfernung von diesem Zug. Schrittweise und synchron mit dem Gefährt, das den Sarg transportierte, bis fast zur Grenze des Friedhofs, der durch eine Baumreihe gekennzeichnet war, entfernte er sich von der Trauergruppe. So entfernte sich auch die Melodie der Trompete. Besucher waren aus Rom, aus Berlin, aus der Hauptstadt München, aus Venedig, aus New York herangereist.
    Die Mund- und Kinnpartie des Verstorbenen vermochte

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