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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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zeitlebens Ablehnung und Empörung ebenso wie Zuwendung dramatisch und mit der Verve eines vitalen Menschen auszudrücken. Diese Kinn- und Mundpartie war bei der Beerdigung präsent: bei dem Sohn, der einen fremden Familiennamen trug, an der Mundpartie aber wie an einem Rittergewand, in dem das Emblem der Familie zu erkennen ist, kenntlich war; auch in der Mundpartie seiner Nichte, der Tochter seines Bruders Thomas, und noch im Gesicht anderer Angehöriger des Clans.
    Einen Priester hatte sich der Individualist verbeten. Neben der Grab-Installation, in die der Sarg von den Beamten nach mehrfacher Verbeugung hinabgelassen wurde, befand sich eine Schüssel mit ungeweihtem Wasser. Die Angehörigen und Freunde, wahrhaft traurig, konnten mit einem für Weihwasser konzipierten Wasserstreuer das klare Naß auf das Holz, die Blumen und die Grube sprühen. Ein Bottich mit Blumen stand bereit, dem die aus der Ferne Angereisten eine Pflanze entnehmen konnten, die sie dem Toten zuwarfen.
Ein Versöhnungskind
    Im Speisewagen eines D-Zuges, der von Nürnberg nach Halle fuhr, von wo aus man nach Halberstadt umsteigt, lernte meine Mutter einen Herrn von Ihne kennen, von dem sie sich (wenigstens in den Momenten, in denen die Landschaft so rasch vorüberflog) ein anderes Leben als das erwartete, was sie mit meinem Vater führte. Rasch nach Ankunft in Halberstadt packte sie, nahm den nächsten Zug nach Dresden zu ihrer Schwester Resi, floh aus dem Ehequartier und nahm mich als Pfand mit. Am Sitz ihrer Schwester verschanzte sie sich, schrieb Briefe. Ihr Vater beauftragte einen Berliner Detektiv, Erkundigungen über Herrn von Ihne einzuziehen. Der kam offenbar aus gutem Hause, schien aber insolvent. Auf dringlichen Rat ihrer Eltern versuchte meine Mutter, die verfahrene Situation wieder einzurenken.
    Als Verhandlungsführer wurde Gustav Fehn (mein angeheirateter Onkel, Resis Mann, der damals als Major an der Dresdner Kriegsschule unterrichtete) zu meinem Vater nach Halberstadt abgeordnet. Im Hotel Weißes Roß saßen die Schwäger bei Bier eine lange Nacht im keltischen Gespräch.
    Es ist das eine, was in einer kritischen Lebenslage mir das Gefühl sagt. Etwas anderes ist, was sich mit dem Comment verträgt, als Haltung in der Stadt und in der guten Gesellschaft anerkannt wird. Man darf nicht als Ehemann betrogen werden und das ohne Folgen lassen. Nun konnte hier aber nicht von einem »Betrug« die Rede sein, wandte Gustav Fehn ein. Jemand hatte einer jungen Ehefrau den Kopf verdreht, sie war »im Affekt« aus dem ehelichen Haushalt ausgebrochen und hatte Wohnsitz genommen bei Schwager und Schwester. Das war kein Ehebruch. Es war darstellbar als »Verwirrung der Gefühle«. Auch hatte ein Offizier der Reichswehr ein Ansehen wie früher ein Beichtiger; er konnte in langer Nacht Absolution erteilen, wenn mein Vater seiner Frau verzieh. Hinzu trat für meinen Vater die Last, seinen Eltern (Hedwig Kluge, geborene Glaube, und Carl Kluge) zu erläutern, daß es demnächst zur Scheidung käme, eine Schande, die in allen vorangegangenen Ehen dieses Clans nie vorgekommen war. Besser, man wartete mit einer Scheidung, bis die Eltern gestorben waren.
    Kurz nach Mitternacht wurde mein Vater aus der Bierrunde zu einer Zangengeburt in die Unterstadt gerufen. Mehrstündiges Bemühen. Er kam nüchterner zurück, als er gegangen war, hatte viel Glück und Erfolg gehabt. Der Schwager Fehn war in der Wartezeit zu einem schweren Rotwein übergegangen. Sein Gesicht, das Monokel im rechten Auge, war rot angelaufen, die Äderchen prall und etwas bläulich. Je weniger nüchtern er war, desto ruhiger wurde sein Ausdruck, wie es sich für Offiziere gehört. In seiner Trunkenheit fiel er auf pure Haltung zurück. Mein Vater hatte gegen 5 Uhr früh mit einigen Schnäpsen den Anschluß gewonnen. Ohne zusätzliche Äußerungen waren sie sich einig, daß meine Mutter von Dresden nach Halberstadt zurückkehren müsse. Die beiden Schwäger sangen:
    ###
    Und wer das tut /
    Den hau’n wir auf den Hut /
    Den hau’n wir auf die Nase /
    Daß er es nicht wieder tut!
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    Die Ober, die ihre Nacht für die beiden drangegeben haben (keine weiteren Gäste mehr im Lokal), erhielten jeweils einen Fünfzig-Mark-Schein als Trinkgeld. Eingehakt bewegten sich die beiden Verhandler zur Kaiserstraße 42, wo sie in zwei Betten fielen. Die Frühsprechstunde fiel aus.
    Im Schutz ihrer Schwester kehrte meine Mutter in den folgenden Tagen zurück; mich, ihr Unterpfand, an der Hand. Die

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