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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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bewohnt, der sich in Mitteleuropa weit verbreitet hat. Oft treffen sich die VERBUNDENEN GENERATIONEN zu Hochzeiten und bei Beerdigungen. Es heißt, daß die Ruhr in ihrer neuen Gestalt und die von brachliegender Industrie charakterisierten Zonen in Mittelengland sowie die verfallenden Fabriken von Detroit ebenfalls eine Art von Verwandtschaft aufweisen. Das können die Mitglieder des Wittener Clans, wenn man sie befragt, nicht bestätigen. Sie sagen, sie hätten diese Schwesterregionen nie besucht. Einige Abkömmlinge sind vor kurzem bis Mailand gelangt. Sie sind dort als Designer tätig. Andere sind umgezogen nach Württemberg-Hohenzollern.
Die letzte Bastion
    Von der Erbengemeinschaft kümmert sich nur die jüngste Tochter um den Erhalt des Elternhauses und des mit diesem Hause verbundenen Cafés: eines Großcafés im Stile der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, von einem Berliner Architekten an den Marktplatz dieses süddeutschen Städtchens versetzt, das damals noch einen Truppenübungsplatz der Wehrmacht in seiner Nähe hatte. Die Sessel- und Tischgruppen bildeten jeweils »eine Ecke für sich«. Und dennoch waren sie zu ihrer Zeit in einem Raum, einer Vergnügungsgemeinschaft, versammelt. Hierher konnten heterogene Partner zum Wochenende strömen.
    Jene Welt ist zerfallen. Nach quälender Krankheit verschied der Gründer des Unternehmens, ein reicher Bäcker. Ihm folgte ein halbes Jahr später die Frau. Die Erben sind zerstritten.
    Sissi, die jüngste Tochter, gilt als Kämpferin. Sie sinnt auf Auswege. Wie kann sie den Besitz zusammenhalten? Verkauft man die Immobilie, wird sie abgerissen. Gott sei Dank ist es unwahrscheinlich, meint Sissi, daß ein Investor in diesem Ort, dessen Bevölkerung sich jährlich vermindert, irgend etwas kauft. Jetzt fahren schon die Fernzüge, die früher hier hielten, am Städtchen vorüber auf einer Strecke, die 50 km entfernt liegt.
    Inserieren, wie man sagt: Reklame machen, nützt nichts. Es besteht kein Bedarf für die Nutzung der schönen Räume. Auch als Festspielort für Operetten oder für Filmvorführungen mit Kaffee und Kuchen ist das Großcafé nicht verwendbar, da Operette und Film, zu denen man Essen einnimmt, aus der Mode sind. Zu Himmelfahrt sitzt diese Erbin im Großen Saal und zählt die sieben bis acht Gäste, die erschienen sind. Und das ist ein privilegierter Tag! Traditionell, so angeordnet von ihrem Vater, hält der Betrieb 16 Tortensorten bereit. In den Fenstern, die zur Straße zeigen, Blumenkästen mit vielfarbigen Blumen. Bald sind die Rücklagen aus dem Erbe aufgebraucht. Neulich war ein Artikel über das schöne Café in der Südwestpresse zu lesen.
Übriggeblieben aus der vorigen Welt
    Vor 19 Jahren haben sie ihren Zeitungsladen verloren. Die Mieterhöhung in der Türkenstraße vertrieb sie aus dem gesicherten Geschäft. Ihren Mann hat sie inzwischen auch verloren. Täglich sieht man sie in der Franz-Josef-Straße, wo ihre neuen Wege entlangführen; einen Rayon von 800 Metern im Umkreis durchläuft sie. Mit dem Stock testet sie die Distanz zur Häuserwand. Auch wenn sie nur langsam vorankommt, erinnert ihre vorgebeugte Haltung an eine »rasche Gangart«. Sie sieht fast nichts mehr.
    Einen Verlust ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung, eine Entwertung ihres Sparkontos durch Inflation würde sie umbringen. Sie hat sich zeitlebens angepaßt und hätte nicht die Kraft für eine weitere Anpassung.
»Mancher Fabriken befliß man sich da, und manches Gewerbes«
    Von Schottland herab, über London und die Niederlande, den Rhein entlang bis zum Gebirge, an Chur vorbei bis Mailand existierte über 300 Jahre eine Zone des Freihandels und Gewerbes, eine Strecke, auf der Philosophen siedelten und Sklaverei und Leibeigenschaft zuerst vollständig abgeschafft wurden. Das war der sogenannte »Grüne Gürtel« der frühen Industrie, des Fleißes, des Geldes und der freien Gedanken. Jetzt, im 18. Jahrhundert, bewegten sich von diesem Strang aus die Linien seitlich weit ins Land. Sie hatten Flörsheim bei Frankfurt längst erreicht, wo vermutlich die Handlung von Goethes Hermann und Dorothea spielt. 150 Jahre später kriechen die Punkte, die auf der Karte der Zielvorräte als Ziele des taktischen US -Bomberkommandos angegeben sind, vom Rheinstrom her in das Land hinein auf Frankfurt zu. Diese Stadt ist allerdings bereits durch das strategische Bomberkommando zertrümmert. Durch Fehler beim Abwurf wurde auch Flörsheim beschädigt, und zwar in einem Viertel, das im Jahre 1793

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