Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
solchen Hotelpalast zum nächsten schwang. Ihm war die unübersichtliche, im Lande verborgene Informationsmasse zuviel. WIRKLICHKEIT ORDNET SICH NUR UNTER , WENN MAN SIE SICH AUSDENKT . Immer schon neigte er, wenn er sich in die Enge gedrängt fühlte, zu einem Durchbruch ins Entschiedene: DIE KÜHNSTE ROLLE IST DIE RICHTIGE . Das packte ihn auch in der Unruhe dieser Forschungsreise. Er war sich nicht sicher, ob er über das, was er hier im Ausland »erlebte«, später schreiben könnte. Er sehnte sich zurück in sein Studierzimmer in Radebeul.
In einem der großen Hotels in Persiens Süden las er in der Gästeliste die Eintragung des Ehepaares Lord Curzon of Keddleston und Frau Victoria. Das schien ihm eine Herausforderung: den berühmten Mann zu treffen, der ebenfalls Gelehrter war, ja ihn in ein legendäres Gespräch zu verwickeln. Er sandte seine Visitenkarte, die auf Dr. h. c. Karl May lautete, in Handschrift darunter gesetzt: HAMMURABIFORSCHER (ein Stück Hochstapelei steckte diesem Mann von seiner Herkunft aus dem Eulengebirge her im Blute). Vielleicht konnte die Neugier den großen Mann, der als Vizekönig von Indien im Gespräch war, zu einem Treffen locken. May bat für den Abend zum Tee im Salon. Er wollte den Lord, wenn er ihn denn vor sich hatte, in ein Gespräch bei Tee und Rum verwickeln. Zunächst, dachte er, würden sie mit den Ehefrauen speisen. Dann würden sich die Herren in den Rauchsalon zurückziehen, wo man zum Kartenspiel oder zum Gespräch sich niedersetzen konnte. Bis 5 Uhr früh wollten sie dann die Welt neu aufteilen: Nicht die gegenwärtige, das traute May sich nicht zu, sondern die historische, die Erzählfläche seit dem Großkönig Kyros, den Grenzziehungen Timur Lenks, die noch heute die Länder des Nahen Ostens mit (oft willkürlichen) Abmessungen der Provinzen charakterisierten. Dann Sardanapal und das Reich von Ninive, das stürzte. Er wollte wie ein deutscher Universitätsgelehrter mit dem britischen Politiker AUF AUGENHÖHE sprechen.
Von dieser Begegnung, die wenig bekannt ist, hatte der Dramatiker Heiner Müller von einem Oberleutnant im Dienste des MfS gehört, den er in der Kantine des Berliner Ensembles getroffen hatte. Dieser war im Außendienst der DDR auf Horchposten im Jemen tätig gewesen und interessierte sich für persische Literatur. Der Agent hatte in seiner Freizeit die NAHE BEGEGNUNG von Lord Curzon und Karl May recherchiert. Vielleicht könnte man, habe Karl May in seinem Tagebuch notiert, indem man die Probleme des Kyros debattierte, auch Probleme des »Kranken Mannes am Bosporus«, also der Jetzt-Zeit, auf welche die Jahrhundertwende zueilte, einer Lösung zuführen. Die beiden Gesprächspartner, Curzon und May, hätten »Schach des Weltgeistes« gespielt? fragte Heiner Müller. Nein, das verkennt, daß das Ereignis nicht stattfand, antwortete der Oberleutnant.
Der britische Lord sagte das Treffen ab. Er ließ sich entschuldigen, er sei zu Schiff unterwegs nach Indien. Es hätte aber sein können, daß sie miteinander konferiert hätten, beharrte Heiner Müller, der die Begegnung später – kontrafaktisch – in seiner Erzählung »Protokoll einer Nachtsitzung« genauer ausführte. 7
Abb.: Am Bosporus 1899.
Prägung eines Charakters durch intime Erlebnisse und einen Sturz vom Pferd
Ellen Mary Paramon, seine Gouvernante, verstrickte den jungen Curzon aufgrund ihrer tyrannischen Wesensart in Kämpfe, aus der er später Zähigkeit bezog. Seine Mutter Blanche starb, als er sechzehn Jahre alt war, fünf Jahre nach der Affäre, die der Elfjährige mit seinem Tutor Oscar Browning erlebte. Die konträren Erlebnisse behinderten ihn im späteren Leben nicht, heißt es. Er überlebte die Beziehung mit dem Tutor, der deswegen sein Amt in Eton verlor, 54 Jahre störungsfrei und litt unter keiner nachweisbaren Schockwirkung.
Ein Reitunfall, der eine Spinallähmung verursachte, zwang ihn, ein Metallkorsett zu tragen. Er litt unter Schlaflosigkeit und Schmerz. Oft wirkte er steif aufgrund seines Korsetts. Die starke Außenorientierung, die ihm sein Amt auferlegte, ließ seine Gesichtszüge maskenhaft erscheinen.
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My name is George Nathaniel Curzon /
I am a most superior person /
My cheeks are pink, my hair is sleek /
I dine at Blenheim twice a week.
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»Im Banne der merkwürdigen Gewalt, welche der Orient auf uns alle ausübt«
In den Jahren nach der Jahrhundertwende, in denen Dr. h. c. Karl May gegen zwei intrigante Journalisten um seine Ehre und sein
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