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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Lieber will sie selbst Unglück erleiden als Dritte mit ihrem Unglück anstecken. In den »Wassern der Vergangenheit« (und wenn das in Theben, einer Landstadt, nicht möglich ist, durch Vergraben in der Tiefe des Erdreichs) will sie die toten Brüder bergen. Sie weiß, wie wenig Sinn es hat, die Gestorbenen dort unten dadurch festzuhalten, daß man einen Stein auf ihr Grab setzt. Um sie einzuschließen, ist es besser, man vertraut ihrem Eigenwillen: daß sie durch das Gestein bis in die Gegend von Gibraltar gelangen, wo der Eingang zum Hades liegt. Sie bewegen sich, die Toten, das ist die Aussage – so der nächtliche Wärmespender, G. W. F. Hegels Text »Die sittliche Handlung, das menschliche und göttliche Wissen, die Schuld und das Schicksal« zitierend.
    Es zeigte sich aber, daß es Irinas Stimmleistung gut bekam, wenn der »Assistent ihrer Nächte«, ihr Kandidat für eine dauerhafte Lebensbindung, ihr Gehirn fütterte. Er studierte jetzt auch die Partitur der ANTIGONA , zusätzlich zu Hegels Texten. Traettas Modelloper war ein Beitrag zu einer »Revolution der Musik«, die im 18. Jahrhundert auf der Achse Paris (Gluck), Stockholm (Joseph Martin Kraus), St. Petersburg (Traetta) stattfand: ein Aufstand des Sinns gegen die bloße Musik.
    Traetta hatte die Rolle des Haimon und die des Kreon auf Geheiß der Zarin Katharina der Großen gegenüber Sophokles verändert. Die Absichten des Kreon gingen dahin, sich die jüngere Tochter des Ödipus, Ismene, als Dienerin und Geliebte und vielleicht später als Ehefrau zuzueignen. Antigona dagegen sollte den Sohn des Herrschers, Haimon (in der Oper Emone), zum Mann nehmen. Was der Usurpator Kreon nicht wissen konnte: Haimon liebte die aufsässige Antigone mit jugendfrischem Herzen, blind und ohne Rücksicht auf das eigene Leben. Im dritten Akt der Oper sind die beiden zu sehen, wie sie sich in einer offenen Grabstätte gemeinsam eingerichtet haben. Lieber wollen sie sich töten, als voneinander dadurch getrennt zu werden, daß nur einer zum Tode verurteilt ist. In zwei Duetten zeigt sich, daß diese libidinöse Beziehung, aufgekeimt inmitten theaterüblicher Dramatik der Zeitgeschichte, die Hauptsache des Stücks bildet, der Musik und den Texten nach.
    Weder der »einfache Gemeinwille« (den Kreon nutzt und korrumpiert) noch »Blut und Familie« (Antigones Bürde) sind von endgültiger Bedeutung.
    Die Zarin Katharina hatte es abgelehnt, so die Recherche von Irinas Freund, eine Oper mit stets wiederkehrendem tragischen Schluß anzusehen. Sie habe schon 64mal die Tragödie des Ödipus und seiner Kinder in griechischer oder französischer Fassung, und stets mit abgründigem Ende, betrachtet: Da werde sie als Kaiserin wohl das Recht haben, diesmal ein Ende ohne Tod zu verlangen. Erfreuliches gehöre zum Projekt der Aufklärung im heiligen Rußland, meinte sie. Aufklärung ohne Glück, sagte sie, ist tot.
    Daraufhin hatte Traetta eine Szene erfunden, in der König Kreon eine »Umkehr« ( METANOIA ) erfährt. Ehe es zu spät ist, sieht er, daß er im nächsten Schritt der Handlung seinen Sohn verlieren wird. Was nützt ihm eine Herrschaft, die sich in seinem Geschlecht nicht fortsetzt? So wandelt er sich zum aktivsten Betreiber der Rettung des jungen Paares. Wirklichkeit, Substanz, Kalkül und freundliches Wesen der Aufklärung treten als Viererchor in der Schlußszene der Oper auf.
    Der Regisseur des Stücks in der deutschen Metropole war nicht bereit, diese dem Sophokles ganz widersprechende Version hinzunehmen. Der Dirigent dagegen beharrte darauf, die Musik bis zum Ende zu spielen, also mit diesem Finale. Die Suche nach einer Änderung von Traettas Modelloper samt erneuertem Proben war mit vier Wochen veranschlagt. In dieser Krise gab die Sängerin der Antigona den Ausschlag. Sie wies auf ihre beginnende Bronchitis hin. Die Premiere müsse ohne Verzug stattfinden, sie könne für ihre Stimme sonst nicht garantieren. Zweifel an Irinas Atemwegen erfaßte das Team. Niemand wollte ihre unerwartet vom Balkan heraufgekommene Stimme entbehren. Das alles tat Irina aus Treue zu ihrem nächtlichen Beichtiger.
Nahe Begegnung zwischen Karl May und Lord Curzon
    Wie Luxusdampfer liegen die Grandhotels westlicher Investoren zur Jahrhundertwende über den Orient verteilt. Daß Dr. h. c. Karl May ein Provinzler und daß ihm das Reisen unheimlich war, sieht man daran, daß er sich auf seiner ersten großen Auslandsreise im Jahre 1899, die ihn noch bis Sumatra bringen sollte, von einem

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