Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Gefühls sind das zentrale Thema. Wenn es das doch gerade in der Liebe selten gibt. Mit elf Jahren habe Lord Curzons ICH die Prägung durch eine über-intime (over-intimate) Beziehung zu seinem Tutor in Eton erhalten, so Klaus Mann. Die Zuwendung zu Männern habe sich in Curzons Leben nicht geändert (insofern Treue und Beharrlichkeit), er sei aber von der Fremdheit, Jugend und geschlechtlichen Unbestimmtheit der Mary Victoria Leiter besonders angezogen worden. Es sei gar nicht ausgemacht, so der Romanentwurf, aus welchen Eigenschaften Männlichkeit bestehe und was demgegenüber als weiblich gelten solle. In der quirligen Chicagoerin mit dem Faible für babylonische Texte habe er den »Mann« entdeckt, der ihm die Wiederkehr des Tutors Oscar Browning zu sein schien, dessen Favorit er war. Victoria wiederum habe in dem älteren, körperlich etwas starren Politiker »die Frau ihres Lebens« gesehen. Geschlecht sei ein Kostüm, heißt es in der Überschrift des zweiten Kapitels, und Klaus Mann kontrastiert es gegenüber dem KOSTÜM POLITIK und dem KOSTÜM GELD .
Besonders spannend ist der Wechsel des Berichtes, den Klaus Mann im zweiten Teil der Skizze vornimmt. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Trauer, nachdem Victoria nach zwei Perioden einer fatalen Krankheit im Juli 1906 gestorben war.
Klaus Manns Diktion wird an dieser Stelle satirisch. Die Überschrift lautet: »Ein Nazi der Liebe«. Es geht um die drei Töchter aus der Ehe der Curzons sowie um dessen zweite Frau:
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Mary Irene, Erbin des Titels und Baronin von Ravensdale
Alexandra Naldera (»Baba«). Sie heiratete Edward Metcalfe, den besten Freund des britischen Königs
Cynthia, die Frau von Sir Oswald Mosley
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Der Politiker Mosley wurde später Führer der britischen Nationalsozialisten. Erst verführte er Irene, danach Baba und auch Lord Curzons zweite Frau, während er zugleich seine spätere Frau Cynthia umschwärmte. Bei der Zuordnung von Mosleys politischer Haltung zu seinem erotischen Erfolg, der Wilderei, die sich jedoch auf eine Familie konzentriert (außerhalb des Clans hatte er keine Affären), verwirrt sich der Text. Es sei nicht überzeugend dargelegt und auch nicht darlegbar, so Paul Valéry, der Klaus Mann schätzte, daß ein Faschist politisch handele, wenn er liebt.
Ein Entwurf von Thomas Mann über Goethe während der Belagerung von Mainz
Lange bevor Thomas Mann Lotte in Weimar schrieb, noch in München, entwickelte er in »lakonischem Ton, in der Art des Tacitus« eine Novelle: Goethe während der Belagerung von Mainz .
Am Morgen Ritt durch die preußischen Biwaks. Vom Fluß her Nebel. Der junge Hofmann und Dichter will zum Großherzog, der in einem Zelt haust. Dazu muß er die Hälfte des Belagerungsrings umreiten. Er wird Zeuge einer Hinrichtung. Ein Bauer, der aber über seine Tätigkeiten unklare Angaben machte und vielleicht Schmied des Ortes war, war verhaftet worden unter der Beschuldigung, er habe die Stellungen der Belagerer ausgekundschaftet und wolle darüber gegen Entgelt an die Franzosen in Mainz berichten. Als Goethe eintrifft, ist das Gericht bei einem Umtrunk. Dazu gibt es Schwarzbrot und Braunschweiger Wurst. Der »Spion« hockt an einer Hecke, auch ihm wird Brot und Bier gereicht. Einen Moment zögert Goethe, ob er sich als Auditor anbieten und den Schlucker oder Schmied verteidigen solle. Offensichtlich besitzt der keinen Rechtsbeistand. Die Stimmung des Gerichts, bestehend aus drei Offizieren, ist aufgeräumt. Vielleicht könnten sie den Mann auch laufen lassen. Was er über die Stellungen der Belagerer erfahren haben kann, würde den Franzosen nichts nützen. In den nächsten Tagen werden sie kapitulieren müssen. Gegen den Angeklagten spricht, daß er nicht gesteht und sich »unklar äußert«. Er ist nicht wortgewandt. Das hat auch Goethe bemerkt, und daher prüft er, ob er einspringen soll. Man könnte nämlich das Gespinst der Vorwürfe zerstreuen, meint er.
Zwei Stunden später wird der Bauer erschossen. Goethe befindet sich in einem heftigen Disput mit einem der Offiziere, die soeben das Gericht gebildet haben, über die Wolkenformation, die über dem Rhein aufreißt, so als übe die Wasseroberfläche des Stroms eine Gewalt aus, und die sich erst am anderen Ufer allmählich wieder schließt. Das beobachteten sie schon längere Zeit.
Das Gerichtsverfahren war roh, so wie diese Belagerung, auf die keine Kunst verschwendet worden war, roh wie der schwere, an den Stiefeln klebende Boden, der
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