Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
seit der Herrschaft der Kelten und Römer auf der linken Rheinseite nicht mehr gründlich beackert schien und »zerfallen« aussah. Eine Ruine an Boden. Nur in der Totalansicht ergab sich ein landschaftlicher Eindruck.
Goethe reitet weiter in Richtung des Zelts des Großherzogs, das von einer preußischen Kompanie bewacht wird. Auf dem Ritt empfindet er nachträglich »starke Einfühlung«. Sie wäre noch intensiver, wenn (wie es im Verhör eine Zeitlang schien) der jetzt Tote ein Schmied und kein Bauer wäre, von denen es hier viele gab. Die Schmiede sind Künstler, und ihre Kunst kommt weit von Osten her, von den Flanken des Himalaya.
Bis zum Großherzog reiten, den Freund zu einer schriftlichen Bitte um Aufschub oder Gnadenerweis zu bewegen, was auf die drei Richter gewiß Eindruck gemacht hätte, dafür hätte die Zeit nicht gelangt. Es steht fest, daß Goethe, von einem solch scharfen Ritt zurückgekehrt, nur einen Erschossenen vorgefunden hätte.
Einfühlung, so schließt Thomas Mann, ist ein Organ des Kunstverstands, jünger als die Schmiedekunst und als Werkzeug noch unausgereift. Sie ist notwendig für das Dichten, noch unhandlich für die Praxis, so wie kräftige junge Leute ihre Glieder noch ungeschickt bewegen, man muß sagen: ungelenk. Auch kommt sie als Aushilfe zu spät. Beim Großherzog gibt es Kapaun. Goethe liest aus einem Tagebuch des Feldzugs vor. Es sind zwanzig Offiziere da und zwei Zivilisten.
Hegels unehelicher Sohn
In den Jahren vor 1807 unterhielt der Philosoph Hegel eine nach dem Sittengesetz nicht akzeptable, aber nach dem Gesetz des Herzens innige Beziehung zu einer verheirateten Frau. Und zwar war Christiane Charlotte Burkhardt, die Frau des Hausbesitzers, in dessen Haus Hegel zur Miete wohnte, eine geborene Fischer. Am 5. Februar 1807 wurde Hegel aus diesem Verhältnis ein uneheliches Kind geboren. Wenn das Gefühl beider Elternteile bei der Empfängnis (und in den Wochen unmittelbar davor und danach) eine Mitgift bedeutet, so hätte das Kind ein Glückspilz sein müssen. In Jena wurde es getauft, Paten waren eine Frau Frommann und Hegels Bruder, der Leutnant Georg Ludwig Hegel. Mit Bezug auf ihn erhielt das Kind den Namen Ludwig.
Ähnlich wie im Fall des Romans der Princesse de Clèves durch den Tod des Ehemanns der Prinzessin die an sich verbotene Verbindung zwischen der Prinzessin und dem Herzog von Nemours plötzlich doch möglich erscheint, änderte sich die Lage des jungen Paares, weil der Ehemann Burkhardt starb. Es heißt, daß Hegel spontan der jungen Witwe die Heirat versprochen habe. Französische Truppen durchzogen die Stadt. Einmal sah der Philosoph den Kaiser Napoleon selbst vorüberreiten.
In Jena war Hegel praktisch ohne Einkommen. Freunde brachten den bedeutenden Geist nach Bamberg, wo eine Redakteursstelle bei der Bamberger Zeitung frei war. Später warb Hegel um die reiche Marie von Tucher in Nürnberg, umschwärmte sie, sein Versprechen gegenüber Christiane Charlotte »vergaß« er. Man sagt, daß er von diesem Abzweigungspunkt seines Lebens an sich in sein »System« eingesperrt habe und daß ihm das philosophisch schadete. Ein Stück Freiheit hatte er verkauft, ein Stück Treue dazu.
Marie von Tucher, jetzt Hegels Frau, perhorreszierte den unehelich geborenen Ludwig. Christiane Charlotte kam nach Nürnberg, das Kind an der Hand, fordernd in der Art eines Marquis von Posa. Das führte für sie zur Beschämung. Der Junge wäre gern Arzt geworden. Hegel hielt ihn an, Kaufmann zu werden. Zum 21. Geburtstag erwarb der Rabenvater ein Offizierspatent für den Sohn bei der holländischen Ostindien-Kompanie. Der Sohn schiffte sich nach Batavia ein. Am 14. November 1831 soll er dort an einem »flammenden Fieber«, einer Entzündung der Atemwege, gestorben sein. Drei Monate vor dem Tode seines Vaters, der die Nachricht im Nebel des eigenen Fiebers vermutlich nicht verstand.
[Die »lechzende Leere« oder das Selbst] In Balance fand der Philosoph sein Verhalten an jenem entscheidenden Wendepunkt seines Lebens nicht. Die »Not wirklicher Verhältnisse« tat der »Wahrheit des Gefühls« Abbruch, welche die Erinnerung doch auch später bekräftigte. Bei »faßlicher Betrachtung« war die Perpetuierung der wahren Empfindung mit einer Uhr zu vergleichen, nämlich dem aufwachsenden Jungen Ludwig, einer lebenden Uhr, welche dem Philosophen anzeigte, daß sein sittliches Leben sich in zwei Leben geteilt hatte. Dies ist aber etwas anderes als die Teilung zweier Äcker oder
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