Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Leitsatz: Freiheit oder Tod gegen Franzosen, Briten und Spanier. Die revolutionäre Bewegung hatte 500000 Seelen erfaßt, die über einen Zeitraum von hundert Jahren von Afrika in die Karibik geschafft worden waren. Sind sie bereit, ihr Leben für die Freiheit zu wagen, so haben sie den Status von Herren, schloß Hegel. Niemanden aber haben sie zum Knecht, fuhr er in der Rekonstruktion des Rohmaterials der Nachricht fort: die britischen Händler nicht, die Franzosen auch nicht. Er hatte bisher nichts davon gehört, daß diese schwarzen Republikaner ihre eigenen Leute zum Knecht machen wollten, der die Arbeit leistet. Einen Herrenstatus wiederum, folgerte Hegel, konnten sie aus ihrer wilden Heimat in Afrika nicht mitgebracht haben. Er hätte auch nicht ihrer Identität während der Sklaverei entsprochen, die sie doch in jedes neue Leben mitnahmen, weil ein Mensch Identitäten nicht einfach ablegen und sich neue aussuchen kann, davon ging Hegel aus. Vielmehr schien ihm die Verwandlung von ehemaligen Sklaven in »Herren« auf einem blitzartigen Impuls des Bewußtseins zu beruhen, der in einer revolutionären Situation entsteht, indem ein Mensch sich am anderen entzündet.
Währenddessen lieferten die britischen Schiffe weiterhin Zucker nach Europa. Er kam aber von Plantagen auf anderen Inseln als Haiti. Die Revolutionäre schienen seinerzeit abgeschnitten vom Weltmarkt. Selbst wenn sie auf den großen Plantagen weiterhin gearbeitet hätten (das taten sie aber wohl nicht), hätten sie keine Herrschaft darüber gehabt, wie man das wertvolle Luxusprodukt bis zu den Kaffeetassen von Leipzig und in die Münder der Menschen bringt. Besser, sagte sich Hegel, sie wären wieder Sklaven und hätten Arbeit.
Er schwankte, ob es einen menschlichen Status als Zwitter oder Amphibie gebe, so daß im gleichen Bewußtsein (wie die Köpfe eines Doppeladlers, und wir besitzen zwei Hemisphären des Gehirns) Herr und Knecht zur Kooperation kämen. Der eine Teil des Bewußtseins verwandelt sich zu jedem Zeitpunkt in den anderen, und die gegenseitige Anerkennung bringt sowohl den Mut, das Leben einzusetzen, wie die (jetzt aber nicht als Furcht vor dem Herrn begründete) Willigkeit zur Arbeit hervor. Das dachte Hegel beim Zeitunglesen, schrieb es aber, so wie er es empfand, nicht ins Manuskript. Ab 11 Uhr, wie es seine Gewohnheit war, begann Hegel mit dem Schreiben. Täglich waren fünfzehn Seiten sein Pensum. An diesem Tage kam er bis zu den Sätzen:
»Das Individuum, welches das Leben nicht gewagt hat, kann wohl als Person anerkannt werden; aber es hat die Wahrheit dieses Anerkanntseins [...] nicht erreicht. Ebenso muß jedes auf den Tod des anderen gehen [...]. Es verschwindet aber damit aus dem Spiele des Wechsels das wesentliche Moment, sich in Extreme entgegengesetzter Bestimmtheit zu versetzen; und die Mitte fällt in eine tote Einheit zusammen [...]. Ihre Tat ist die abstrakte Negation, nicht die Negation des Bewußtseins, welches so aufhebt, daß es das Aufgehobene aufbewahrt und erhellt [...].«
Wie der Zufall in einer Winternacht Generationen an Nachfahren zustande brachte
»In der Nacht vor dem entscheidenden Tag konnte Marja Gawrilowna keinen Schlaf finden.«
Alexander Puschkin
Ein der Leidenschaft fähiges 17jähriges Mädchen, das bereit war, gegen den Willen ihrer Eltern einen jungen Mann zu heiraten, von dem sie annahm, daß sie ihn unsterblich liebe, gelangte im Dezember 1811 zu einer Kirche, obwohl ein Schneesturm, der Südrußland übertobte, jede Orientierung auf dem Wege unmöglich machte und die Schneegestöber den Schlitten gewalttätig behinderten.
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»Da wir ohne einander nicht atmen könnten
und der Wille der grausamen Eltern unserem Glücke im Wege steht,
dürfen wir uns da nicht ohne ihre Einwilligung behelfen?«
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Das Mädchen war bis zu der Kirche gelangt, in welcher der Pope, wie vereinbart, und die Zeugen bereits warteten. Ihr Geliebter aber hatte im selben Schneesturm sich vollständig verirrt. Er war zweieinhalb Stunden entfernt vom Ort der Verehelichung, von einem Gehölz irritiert, umgekehrt, und sein und seiner Begleiter Schlitten fuhren in Richtungen, die zu keinem Ziel führten. Infolge der extremen Anstrengung der Herbeifahrt (gegen die Eltern zu handeln, in den Schneemassen praktisch unterzugehen) war die junge Frau auf der Kirchenbank in Ohnmacht gefallen.
Ein anderer Schlitten, der eines Rittmeisters namens Burmin, hatte in derselben Sturmnacht mit einem für die Handlung
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