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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Stellungen aus weit in die deutsche Frontlinie hinein. Britische »Bergleute in Uniform« nutzten den leicht zu bearbeitenden Boden zum Bau von Tunnels. An jenem 7. Juli explodierten 20 Sprengmassen direkt unter der von den Deutschen aufgestellten Artillerie: je ein Krater von 60 Metern Breite und 12 Metern Tiefe. Mehr als 15000 Soldaten starben.
    Lehmboden saugt Regenwasser ein. So leicht dieser Boden zu durchtunneln ist, so rasch sind alle Unebenheiten, auch Krater, wieder eingeebnet. Heute findet der Tourist an der Stelle der Explosion einen unansehnlichen Teich, den »See des Friedens«. Heiner Müller besichtigte dieses Gewässer, als er sich mit seinem Verdun-Stück beschäftigte. Mit Dirk Baecker, den er in seinen letzten Lebensjahren als ökonomische Auskunftsperson schätzte, erörterte er die Schlachten des Ersten Weltkrieges in Nordfrankreich: Jeder Handgriff (jeder Entschluß, jede Maschination, jeder skill) auf der britischen Seite entspricht einem Gegen-Handgriff (und dessen Derivaten) auf deutscher Seite, sagte Müller. Das Ereignis habe Wurzeln, die älter seien als 150 Jahre, insoweit bestimmte Formen des Nationalcharakters soviel Zeit bräuchten, um sich zu entwickeln. Hinzu treten die vier Jahre dieses Krieges, der so anders verlief, als die Führung annahm. Die VERNICHTUNGSARBEIT BEIDER SEITEN habe sich unterhalb einer solchen Führung erst entwickelt. Sie sei ein Artefakt. »Kunst« wollten das Müller und Baecker nicht nennen, obwohl alle Ingredienzien, die zu einer künstlerischen Großinstallation gehören, in diesem Monument des Gesamtarbeiters enthalten waren, wandte der an die Sachlichkeit der Bielefelder Schule der Soziologe gewöhnte Baecker ein. Irgendwo hören die Vergleiche auf, schloß Müller die Debatte ab.
Eine Strömung von Kooperation ganz am Sockel
    In seinem Todesjahr verfolgte Heiner Müller die Absicht, ein Drama über ÖKONOMIE zu schreiben. Er war angeregt durch Dirk Baeckers Publikation Postheroisches Management . Das war der Einbruch westlicher ökonomischer Analyse in Müllers Denken. Die Rasanz des Stoffes verblüffte ihn. Auch hielt er es für gut, Arbeitspläne mit einem gewissen Grad von Bestimmtheit zu entwickeln, weil sie den Tod hinauszögern helfen, denn der ist nicht so unfair, eine laufende Produktion zu unterbrechen.
    Müller erinnerte sich an seine Studien vor Ort im Arbeitsprozeß der DDR . Er hatte sie in jener Zeit betrieben, in der er bei den Behörden der DDR in Ungnade stand. Stücke, die von der Produktion handelten, konnte er nur schreiben, wenn er Erfahrungen in den Betrieben gewann. Mit dem ganz anderen Raster Dirk Baeckers hatte er die eigenen Eindrücke erneut vor Augen. Beeindruckt hatte ihn die REPARATURINTELLIGENZ in den Betrieben. Binnen Stunden richteten die Praktiker eine havarierte Maschine wieder her (gegen alle Wahrscheinlichkeit, daß dieser schon im Krieg verschlissene Apparat, der in den Jahren der DDR nie erneuert worden war, überhaupt wieder in Gang gesetzt werden könnte). Der Grund für solches Gelingen war in einer unmerklichen Kooperation zu finden, die mehr bedeutete, als »aus Irrtümern zu lernen«. Auch verfolgte er, daß ein hochrangiger Genosse der Bezirksverwaltung Erfurt seinen Sitz in einem der Betriebe einnahm. Das empfanden die Arbeiter vor Ort als Kontrolle und Bedrängung. Tatsächlich wollte der Kader Nähe zum Produktionsprozeß herstellen. In vieler Hinsicht erinnerten solche Vorkehrungen an Phasen des Frühkapitalismus, meinte Müller, in denen die Ausbeuter und die Werktätigen noch physisch aufeinander einzuwirken vermochten. In seiner Skizze für das Drama, das jetzt moderne, westliche Erfahrungen am Beispiel der ostdeutschen Bundesländer dramatisieren sollte, baute er diese Erfahrung aus den siebziger Jahren gleich in der zweiten Szene seiner Skizze ein.
Als Monteverdis Bote im Autowerk
    Für die Filiale eines Autowerks komponierte Luigi Nono eine »Klanginstallation für Arbeiter«. Er verwendete »Klänge der Arbeitswelt«, auch Fetzen aus Kampfliedern der Arbeiterklasse. Zunächst folgten ihm die Zuhörer, Praktiker des Produktionsprozesses, willig. Die Musikzeit ging von ihrer Freizeit ab – sie waren nicht geizig. Einige hätten lieber Klavierstunde gehabt, sagten sie später. Andere wären bereit gewesen zur Gründung einer Blaskapelle. Auch die »revolutionäre Wendung der Dinge vor Ort« hätte bei ihnen Interesse gefunden, sagten sie. Vor allem Verbesserungen am Arbeitsplatz und Vorkehrungen

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