Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
gegen Unfälle (Handverletzungen, Fußverletzungen) wären ihnen wichtig gewesen, waren aber mit Musik nicht zu bewirken.
Nonos Unermüdlichkeit, welche ihn den Versuch, zum Arbeitsprozeß vorzudringen, mehrfach wiederholen ließ, beruhte auf dem sicheren WISSEN , das er aus dem Werk Walter Benjamins bezog, daß es in der Welt, und somit auch in Norditalien, eine SCHWACHE MESSIANISCHE KRAFT geben müsse. Sie ist wirksam, ohne daß irgendeiner das aktiv will oder irgend etwas sie verhindern könnte. Sie einzusammeln bleibt das einzige Glück des Propheten. Ein Kescher, der die Punktualität dieser schwachen Kraft einfange, sei die Musik, so Luigi Nono.
Wandernde Klänge gehorchen keinen Eigentumsgrenzen
Wie er sich das für den Dom von San Marco gewünscht hätte (daß nämlich in Nachfolge der polyphonen Werke Willaerts oder Gabrielis zehnchörig die Klänge zu wandern begännen), so wurde als Fundstück in Salzburgs Mitte, in der Kollegienkirche, die für Gottesdienste nicht mehr benutzt wurde, Luigi Nonos PROMETEO aufgeführt. Ein spirituelles Ereignis in einer Länge von 2,5 Stunden für vier Chöre, die Musiker des Ensemble Moderne und eine Lautsprecherinstallation. Musikalische Leitung: André Richard und Ingo Metzmacher.
Dieses aus den Notationen Nonos freigesetzte Wunder befand sich aber organisatorisch im Besitz des Hessischen Rundfunks. Nur dessen beamtetes Team hatte das Recht, das Unikat aufzuzeichnen. Die freien, im Raum vordringenden, auch kreisenden Klänge standen fest abgegrenzt vor unsichtbaren Grenzzäunen wie bei Gewitter unruhig gewordene Pferde, die ausbrechen wollen.
Parallel zu dieser Installation fand der Convoco-Kongreß von Dr. Corinne Flick im Mozarteum Salzburg statt. Thema: Wem gehört das Wissen der Welt? War Nonos freigesetztes Werk ein »Wissen«? Oder gehörte es zu dem, was Hölderlin »Stimmen der Götter« nennt? In beiden Fällen durfte es nicht in Eigentum eingesperrt werden. Das bestätigten auf dem Kongreß die klugen Rechtsgelehrten, die aufgrund historischer Erfahrungen argumentierten. Es könne nicht rechtens sein, was faktisch nicht möglich sei. Wandernde Klänge, wie sie sich in der Kollegienkirche ereigneten, kann man (als ein spirituelles Wissen) nicht wie in einem Gefängnis »festhalten«. Tatsächlich wurde von der Aufführung eine geheime Aufnahme angefertigt.
Insolvenz im Motiv
Weil er exzessiv sorgfältig war, wurde er in der Wirtschaftsberatungsfirma, der er angehörte, von den Kollegen gemobbt. Zugleich wurde er befördert. In der neuen Position, in welcher er neun untergebene Wirtschaftsprüfer zu überwachen hatte, fühlte er sich überlastet. Von Haus aus (seinen Eltern her, seiner Erziehung) war er zäh. Zuletzt verbrauchte er täglich 90 Prozent seiner INNEREN ENERGIE (über die er doch nur einmal verfügte), um sich dazu zu bringen, es in dieser Arbeit auszuhalten. Nur 10 Prozent standen ihm für flexible Anpassung an neu auftretende Schwierigkeiten und an Motivation zur Verfügung. Als auch die verbraucht waren, sah er klaren Auges, daß er dem Unternehmen nichts mehr nützte, das an ihn glaubte.
An einem der Montage im Frühling fuhr er nicht zur Firma, sondern zu einer Rheinbrücke nördlich von Düsseldorf. Dort ließ er den Wagen an der Auffahrt stehen. Sein Körper wurde sieben Kilometer stromabwärts in einer Schleuse gefunden.
Die zerbrochene Gabel
In einem gelungenen Produkt ist die Erinnerung an den Prozeß, in dem es entstand, nicht mehr enthalten. Erst wenn das Produkt beschädigt ist, richtet sich die Aufmerksamkeit wieder auf den Produktionsprozeß, mit der Frage, ob dort die Ursache für den Schaden zu finden sei. Nur im Produktionsprozeß kann etwas für die Zukunft verändert oder die Reparaturchance ermittelt werden. Marx illustriert das am Beispiel der zerbrochenen Gabel.
Abb.: »Die zerbrochene Gabel.« Richmond, nach der Zerstörung im amerikanischen Bürgerkrieg. Hauptstadt des Südens, in dem Scarlett O’ Hara lebte.
»Tote Arbeit«
Nach der Insolvenz der Vulkanwerft Bremen ersteigerten Kader der chinesischen Regierung (noch vor der Zeit des Booms in den Sonderwirtschaftszonen ihres Landes) die technischen Anlagen und ließen sie durch eine Crew Bremer Arbeiter nach Tsingtau transportieren. Dort wurde die Schiffswerft neu errichtet. Jetzt standen die massiven und immer noch produktionsbereiten Anlagen auf fremdem Boden, auf dem es schon einmal eine deutsche Kolonie gegeben hatte. Auch hatten diese Schiffsbauvorrichtungen
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