Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
dem Bau von Kriegsschiffen gedient, die als schweres Eisen nach Ostasien fuhren, um den Boxeraufstand dort zu unterdrücken.
Mit seinem Taschenmesser ritzte einer der chinesischen Ingenieure, welche die deutschen Arbeiter ablösten, die den Maschinenkoloß eingerichtet hatten, in die Stahlkonstruktion hinein. Warum? Er habe es für möglich gehalten, daß das Blut jener deutschen Kollegen, die diese Installation gebaut hätten, aus dem Schnitt herauskomme. Zusätzlich müßten aus dem Stahl und aus dem Getriebe auch das Blut der Erfinder und Konstrukteure herauskommen, das von deren Vorfahren, auch das der Stahlkocher und aller anderen Menschen, die an der Produktion dieses prächtigen Stücks Industrie teilgenommen hatten. Der Chinese behauptete, er könne die vielen Toten, die mit ihrer Lebensarbeit in den Maschinen repräsentiert seien, wie »in einem Trauerkondukt« vorüberziehen sehen. Die deutschen Arbeiter, die höflich zuhörten, waren ungeduldig. Sie hofften auf einen Bierabend mit den Chinesen zum Abschied, nicht auf eine Belehrung.
Industrieruine, liegengeblieben auf dem Weg der Investoren
Ein Pulk von 22 US -Pensionsfonds hatte mit Bewilligung der chinesischen Behörden in einer der Sonderwirtschaftszonen nordwestlich von Shanghai (es war in der Zeit des beginnenden Booms) eine Industrieanlage hochgezogen und eine Zeitlang betrieben. Dann hatten diese Fonds ihr Kapital umdisponiert und in Indien neu angelegt. Die lokale Produktionsanlage in China wurde zur Ruine. Der Sohn jenes Funktionärs, der für die vertrauensselige Zulassung der fremden Investoren verantwortlich gemacht und hart bestraft wurde (in der Haft nahm er sich das Leben), ist heute Vorsitzender eines Ausschusses in der Volksversammlung der Republik. Er ist entschlossen, dafür zu sorgen, daß sich der Vorgang nie wiederholt.
Erwachsenenbildung für die Finanzindustrie
Mein Großvater, berichtete der Vizepräsident der obersten Rechnungsprüfungsbehörde der Volksrepublik China, lehrte noch Marx an der Universität Shanghai. In der Kulturrevolution kam er um. Dann eigneten mein Vater und ich (beide im Wirtschaftsressort der Partei) uns die Lehren der Chicagoer Schule über die kapitalistische Ökonomie an. Damit machten wir unsere Erfahrungen nach 1990. Inzwischen ist im Westen (von uns aus gesehen im Osten) diese Doktrin im Zerfall begriffen.
Neuerdings organisieren wir, ausgehend von unserer Behörde, Kurse in Manhattan zur Weiterbildung ratloser Finanzleute in den USA . Zur Entwicklungshilfe sind wir bereit. Wir veranlassen das auch im eigenen Interesse, da eine unwissenschaftliche Herangehensweise an die Finanzkrise, wie wir sie in New York feststellen, unser eigenes Volksvermögen als Großgläubiger der USA gefährdet. Wir haben in die (ursprünglich mühsam erlernte, jetzt von uns perfektionierte) FREIE MARKTÖKONOMIE Produktionserfahrung eingebracht. Im Südsudan, in Nigeria, an Kairos Universität sind wir mit unseren Exposés und Schulungen in nachhaltigem Maße durchgedrungen. In den USA stoßen wir auf taube Ohren. Keiner will unsere Kurse besuchen. Die dort Verantwortlichen haben keine Zeit, etwas zu lernen, was ihnen doch nur helfen würde.
Ein Absacker-Gespräch
Bekanntlich gewann Joseph Vogl mit seinem Buch Das Gespenst des Kapitalismus als Kulturwissenschaftler auch die Aufmerksamkeit von Wirtschaftsexperten. Nach einem Pressegespräch mit Claudius Seidl saßen die beiden spätabends noch in den Redaktionsräumen der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung eine Weile zusammen. Sie nahmen einen Absacker. Die Ereignisse der Wirtschaftskrise und die Tatsache, daß ein solches Gespräch am Tag darauf gedruckt und mit nicht veränderbarem Wortlaut vorliegen würde, sind unvereinbar mit sofortigem Schlaf, wieviel Müdigkeit in Kopf und Knochen auch vorhanden sein mag.
Wenn Bauteile, die in 30 Ländern hergestellt wurden, fragte Claudius Seidl, in einen Computer von Samsung eingebaut werden, ist das Produktion? Das ist keine Produktion, sondern Design, antwortete Joseph Vogl. Ich sehe keine Arbeiter am Werke. Das Zusammensetzen erledigen Automaten, fügte er hinzu. Und was ist von dem Fingerschnick zu halten, mit dem Steve Jobs, der von Krebs gepeinigte Chef von Apple, seine Touchscreen-Modelle zum Erfolg führte, ist das auch Design? Nein, erwiderte Vogl (welcher der Regel im Absacker-Gespräch gehorchte, daß man stets überraschend antworten solle). Produkt seien die Fingerspitzen selbst (nämlich die Evolution), dann die
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