Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
verbrachte mein Vater dann bei seinen Eltern. Sie repräsentierten die »alte Zeit«, die es nun nie wieder geben würde. Mit Kameraden ging er an die Universität Jena. Sein Physikum hatte er 1914, weil die Eltern die Studienkosten für eine Universität nicht aufbringen konnten, an der Akademie für Militärärzte, der Pépinière, absolviert. Das hätte bedeutet, daß er nach Abschluß des Studiums auf Dauer Militärarzt hätte sein müssen. Das war durch den für das Reich negativen Ausgang des Krieges unnötig geworden. Ein Gewinn für meinen Vater. Im Kriegslazarett waren die Eleven zu »Ärzten auf Zeit« ernannt worden, jetzt holten sie im Schnellgang die klinischen Semester und die Examina nach. Ihnen darin entgegenzukommen gehörte zum vaterländischen Beitrag der Ordinarien. Sie stellten ihre Autorität zur Verfügung, damit diese Jungen rasch zu praktischen Ärzten ernannt werden. Schon sah mein Vater, daß es nördlich von Halberstadt eine Vakanz gab. Die Praxis betreute eine Gruppe von Dörfern unterhalb eines Höhenrückens namens Huy.
Abb.: Pferdeverkauf in Hamburg. November 1918.
Loss of history
In seinem Exil in Belmont, Massachusetts, schrieb der Marxist Karl Korsch seine Beobachtungen nur noch auf Zetteln nieder, weil er für die Publikation eines Buches weder in der DDR noch in der Bundesrepublik, noch auf dem englischsprachigen Markt eine Chance sah. Auf einem dieser Zettel notierte er am 30. November 1951: Die Arbeiter in Deutschland verloren ihr in den Wahlkämpfen nach Aufhebung der Sozialistengesetze erworbenes politisches Prestige und den Gegenwert aller ihrer Lohnkämpfe durch den Ersten Weltkrieg. Sie begannen ihre Kämpfe nach 1918 neu (ihr einziger Kriegsgewinn: das Zugeständnis an die Bergarbeiter, daß die Wasch- und Umkleidezeiten künftig zur bezahlten Arbeitszeit rechnen sollten). Sie vertrauten dann auf die Rentenmark 1923, opferten für die Krise des Schwarzen Freitags 1929, und nun haben sie in den Zweiten Weltkrieg wiederum den Gegenwert des Erarbeiteten eingezahlt. Sie verteidigen inzwischen die Reste der Maschinerie in den zertrümmerten Fabriken gegen die Reparation durch die Alliierten. Woher diese Geduld? Wieviel Hoffnung müssen sie bereitstellen (außer daß sie für Lebensmittel und Wohnung für sich und ihre Familien sorgen), um es »entgegen aller Beobachtung, daß sie um ihre Lebensarbeit betrogen werden«, auszuhalten? Die folgenden Generationen werden nicht einmal mehr davon sprechen.
Abbruch der Erfahrung
Auf der Beerdigung, zu der wenige Geladene zugelassen waren, fiel einem französischen Gast auf, daß mit diesem 101jährigen Mann eine Erfahrungswelt endgültig begraben wurde, wenigstens was persönliche Zeugenschaft betrifft. Kein Mensch, der über Ausdrucksvermögen verfügte, war mehr da, der nach etwa hundert Jahren von der Realität des industrialisierten Kriegs von 1916 hätte berichten können. Dabei war dieses »Laboratorium der Erfahrung« von beiden Seiten, von Deutschland und Frankreich, teuer bezahlt worden. Durch Bücher ließe sich solche Erfahrung nicht festhalten, meinte der Franzose.
Schon 1940 fühlte sich Ernst Jünger in Paris mit seinem Wissen isoliert. Die Jungen dieses Siegeszuges kannten den Ersten Weltkrieg in keiner Weise, dessen Pranke dann doch 1944 zuschlug, als sich die Blitzkriegsfronten örtlich in Stellungskämpfe verwandelten. Der Franzose warf wie alle eine Schippe Sand und eine Blume ins Grab, dazu auch die Illusion, daß es einen Erfahrungstransfer über die Generationen hinweg je geben werde. In der modernen Rüstung eines Eurofighters oder eines Raktenabwehrsystems waren mehr von den Spuren von 1914-1918 eingebaut, als in den Köpfen der jüngeren Trauergäste, die sich zu dem angekündigten Umtrunk aufmachten.
Abb.: Umtrunk im Unterstand 1916. Rechts Ernst Jünger.
Ein Anschein von Kooperation
Ein außerirdischer Beobachter hätte die Vorgänge am 7. Juni 1917 bei Passchendaele, an denen mehr als 200000 arbeitsfähige, bewaffnete Männer auf beiden Seiten der Front beteiligt waren, für Kooperation gehalten. Auf der deutschen Seite waren im Zusammenhang der letzten Offensive des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg gewaltige Munitions- und Artilleriemassen konzentriert worden. Von Metall ummanteltes Dynamit im Umfang ganzer Eisenbahnzüge sollte auf die britischen Linien abgeschossen werden. Die Vorbereitungen für diese VERNICHTUNSARBEIT waren abgeschlossen. Eine Lehmschicht zog sich von den englischen
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