Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
Vom Netzwerk:
längerdauernder Zwang zum Nichtstun sie lähmt. Wenn einer »gar nichts denkt«, zeigt das Enzephalogramm »weißes Rauschen«, hohe Aktivität. Das Hirn geht so souverän mit der verwirrendsten Fülle von Eindrücken um, weil seine Grundform auf einer spezifischen Selbstregulation beruht, die sich übrigens von allen anderen eigentümlichen Formen der Selbstregulation in der Natur und in anderen menschlichen Organen unterscheidet.
Eiszeit
    Es gibt keine Selbstregulation an und für sich. Man kann sagen, daß die grundlegende Differenz, zum Beispiel zwischen der Kälte einer Eiszeit und der Selbstregulation des Wärmehaushalts des menschlichen Körpers, die Unruhe bildet, von der her der Mensch unter anderem begonnen hat zu arbeiten. Das Hirn ist dabei keineswegs ein Fenster. Realität dringt nicht durchs Hirn hindurch in irgendwelche tieferen Organe. Im Wie seiner Arbeitsweise ist das Hirn Selbsttätigkeit für sich, sein Wesen besteht darin, daß es lebendig ist und nach seinen spezifischen Gesetzen sich betätigt, die sich zunächst weder um die Außenwelt noch um das übrige im Menschen kümmern. Erst wenn diese Eigentätigkeit von einigen Milliarden von Synapsen gelebt hat, erweist sich, daß es zugleich in der Lage war, Funktionen zu erfüllen. Seine eigene Formbestimmung und seine Inhalte sind von Anfang an nicht-identisch, verhalten sich wie Monade und Fenster.
Zelle
    Das einfachste Element unter den Natureigenschaften der Menschen wiederum ist die Zelle. Etwas Einfaches ist sie nicht. Man hat ihre eigentätige Arbeitsweise so beschrieben: » Soviel innen wie möglich, sowenig außen wie nötig. « Die Zellen schotten ihre Eigentätigkeit als Einzelne, also zum ganzen Menschen und zur Außenwelt hin mehrfach ab. Andererseits bewahren sie Programme in ihrem Innern, welche die vollständige Erinnerung an die gesamte Vorgeschichte und alle Eigenschaften der Gattung enthalten. Nicht nur die Gen-Zellen, sondern alle Zellen besitzen dieses Erfahrungspotential innerlich.
Ungehorsam
    Würde das Kapital oder ein Befehlshaber der Zelle Befehle erteilen, so würde sie nicht gehorchen. Sie ist ja auch nicht als einzelne Zelle durch das Individuum, ihren Herrn, in Bewegung zu versetzen. Ich kann die Muskeln, den ganzen Mann, in Marsch setzen, aber ich kann nicht Zellen und Zellenverbände aus ihrer Eigenregulation lösen und so in Marsch setzen. Selbstregulation ist deshalb etwas Spezifisches, das in einem jeden organischen Ganzen einen Charakter annimmt, der sich zu jedem höher gearteten organischen Ganzen hermetisch, also unübersetzbar eigen, und erst über Vermittlungen und Chiffrenwechsel in Verbindung hält.
Brüderlichkeit

    Abb.: David Gérard, Deputierter aus Rennes, 1793, Jakobiner, Maler. Familienbildnis. Gérard hat sich, in revolutionärer Vorliebe, als Bauer gekleidet. Die Kindergeneration folgt ihm darin nicht, kleidet sich modisch.
    Alle diese Selbstregulationen haben eine räumliche, rhythmische (zeitliche) und spezifisch chiffrierte Eigenwelt und wären niemals, wie der bürgerliche Begriff der Freiheit, etwas Allgemeines, das nur in verschiedener Verfassung und von verschiedenen Individuen ausgeübt wird. Im Verfassungsartikel von 1789 folgt ja dem Wort Freiheit auch sogleich das Wort Gleichheit, kritisiert gewissermaßen das bloße Programm der Freiheit »wovon«. Aber erst in dem Assoziationsinteresse, das im dritten Wort des Verfassungsartikels, der Brüderlichkeit, enthalten ist, ist auch ein spezifischer Selbstregulationsprozeß bezeichnet, der mindestens für den Kreis der Revolutionäre, also für die assoziierten Produzenten der Revolution, eine Aufforderung zur Selbstregulation ihrer Konflikte enthält.
Selbstregulierung als Ordnung
    »Es gibt keine Selbstregulierung an und für sich.« Als lebendige Arbeit entsteht sie in der Reibung am Gegenstand. Der daraus entstehende Ordnungsbegriff unterscheidet sich von einem, der durch Kommandogewalt (= Leitungsnetz ) hergestellt wird, dadurch, daß die selbstregulierende Ordnung vielgestaltiger ist. In einer Schule, die selbstreguliertes Lernen zuläßt, sind zwei Kinder in das Entziffern von Buchstaben vertieft. Drei Kinder klettern an einer Kletterstange. Eine Gruppe von Kindern stürmt und tobt, eine andere Gruppe hat Tische zu einem Haus zusammengestellt und hockt darunter. Konzentriert lösen andere Kinder ein Rätselspiel, wieder andere verfertigen künstlerische Pappfiguren. Der Lehrer bewegt sich dazwischen. Alle diese Gruppen stören

Weitere Kostenlose Bücher