Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Akkordjahre ihre Bewegungen innerhalb der Möglichkeiten des Akkords ausgedehnt, sie hat ein paar Bewegungen dazuerfunden und schafft trotzdem noch den Akkord. Mit den Händen nimmt sie nicht nur das Material auf und schweißt es unter der Elektrode zusammen, sondern wenn man ihr zuguckt, sieht das so aus: Frau Heinrich breitet die Arme aus wie im Flug, dann zieht sie sie wieder ein und nimmt dabei, als käme sie rein zufällig daran vorbei, das zu schweißende Material in beide Hände und wippt, während sie es aufnimmt, mit dem Körper nach und tritt mit dem Fuß drei- bis viermal auf das Fußpedal und schweißt dann das erste Teil an. Dann wieder Ausbreiten der Arme, das Frau Heinrich als Schwungholen für ihren Akkord nutzbar macht, sonst bliebe das Schwungholen eine überflüssige Bewegung, und Frau Heinrich könnte sie sich nicht leisten. Mit den Füßen macht sie es genauso. Sie hat bei einem Arbeitsvorgang 2 Schweißstellen. Die anderen Arbeiterinnen haben 12 bis 16 Schweißstellen. Frau Heinrich macht sich auch hier ein paar dazu. Während sie das Material aufnimmt, noch bevor sie es unter die Elektrode legt, tritt sie mit dem Fuß drei- bis viermal auf das Fußpedal, dann erst schweißt sie richtig. Diese Bewegungen hat Frau Heinrich gegen den Akkord entwickelt.«
»Sinnlich sein heißt leiden«.»Schöpferische Zerstörung« im individuellen Lebenslauf
Die Abteilung für Bildungsökonomie im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, wie sie Prof. Dr. Edding einst gründete, befaßte sich mit den Budgets des Bildungswesens, mit Schwerpunktfinanzierung, Rechnungsprüfung, internationalem Kostenvergleich und anderen Zahlenwerken. Neuerdings arbeitet am Sockel dieser Abteilung eine Arbeitsgruppe an etwas ganz anderem: Was weiß man, fragt Ingrid Zuse, die Leiterin des Teams (unter Anwendung der Erkenntnisse von Jean Piaget und von Arno Bammé in Graz), von der ÖKONOMIE DER LERNWILLIGKEIT in den Menschen, die überhaupt für Bildungsvorhaben zur Verfügung steht? Zuse geht davon aus, daß zweierlei notwendig ist, damit eine Lernbereitschaft entsteht: Es muß Not vorhanden sein, und es müssen an den Rändern der Not glückliche Erlebnisse dasein, damit Neugierde entsteht. Ingrid Zuse schreibt:
Ein Mensch wird geboren. Seine Muskeln, Nerven, die Haut, sein Gehirn haben die Eigenschaft, sich allseitig zu regen, zu antworten. Dies geschieht zunächst in einer Sprache, die nicht die der Erwachsenen ist. Rhythmus, Dauer, Tonhöhe, Lautstärke, Wechsel, örtliche Bewegung, gewiegt werden, Gleichgewichtssinn und dessen Variationen, kippen – daraus macht jedes Kind eine Eigensprache. Die allseitige Betätigung macht Versuche, lebendig zu sein, reagiert auf Störungen. »Leben ist sinnlich sein ... sinnlich sein heißt leiden« (Marx). Das Kind antwortet auf Urobjekte, die ihm begegnen. Es lernt in seiner Weise. Das ist die Bedingung, unter der es sich und die Umweltbedingungen voneinander zu trennen versteht. Es lernt so, »sich zu beherrschen«. 10
Hierbei hat bereits eine Reihe von Trennungsprozessen stattgefunden. Die allseitige Betätigung findet ihre Schranke im Interesse der Urobjekte, das sich nicht auf alle Bewegungen des Kindes gleichmäßig richtet, sondern auf diejenigen, die später zum Sitzen, Stehen oder Gehen taugen. Das Kind lernt, seine Bewegungen in dieser von den Urobjekten gebahnten Richtung zu selektieren, wird aber deshalb die Lust auf allseitige Betätigung nicht aufgeben, sondern verinnerlichen. Dies bedeutet: Ein Teil geht in die Anpassung, ein Teil in den Protest.
Für diese Ökonomie ist es gleichgültig, welche Variante der Beschreibung man wählt. Man kann es ganz äußerlich als eine Bilanz beschreiben, fährt Ingrid Zuse fort, in der 50 Prozent der inneren Eigenschaften sich in Protest, 50 Prozent in Anpassungsvermögen verwandeln. Die Proteste aber wandeln permanent ihre ursprüngliche Gestalt. Aus Geschrei wird stummer Gehorsam. Jeder dieser Übergänge findet wiederum in der Form statt: ein Teil Anpassung, ein Teil Protest. Die Trennungsenergien bestehen aus zweierlei: aus Verlusterfahrung und aus der Fähigkeit, darauf zu antworten. Finden die beiden Teile nicht zusammen, so entsteht Krankheit. Finden sie zusammen, entsteht der Rohstoff (Kitt, Ferment) für spätere Tüchtigkeit (zur Hälfte) und die Produktion der spezialisierten, »erwachsenen« Sexualität aus den allseitigen Vermögen der kindlichen Erotik (zur anderen Hälfte). Das Kind hatte nie die Absicht,
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