Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
Halsstarrigkeit verblieben und elendiglich verstorben. Es sei ein außerordentlich feines und kluges Mädchen in dem zarten Alter von sieben Jahren und dessen ungeachtet die allerärgste Hexe gewesen.« Der Pfarrer traktiert das Kind zu Tode, mit Prügel, Hunger, Isolierung von der Umwelt. Die Mutter wünscht sich das kleine Meretlein eher tot als verstockt; sie bestellt einen Maler, der das Kind mit einem Totenschädel in der Hand malt. Als das Totenbäumlein, der Sarg, ins Grab hinuntergesenkt wird, ertönt ein Schrei; die kleine Meret richtet sich im wieder geöffneten Sarg auf und läuft, von einer Kinderschar gejagt, auf einen Berg, wo das Kind »leblos umgefallen ist, worauf die Kinder um dasselbe herumgekrabbelt und es vergeblich gestreichelt ... haben«.
»Antirealismus des Gefühls«
In einem Schützenloch auf der Krim steht 1944 ein Mann bis zum Hals in der Erde vergraben. Sein Kopf, auf dem ein Stahlhelm befestigt ist, ragt in die gefährliche feindbezogene Realität hinaus. Joseph Beuys hatte dieses Bild vor Augen, das er aus eigener Erfahrung kannte, als er seine Installation »Die zwei Aggregatzustände des Menschen« plante. Die Krankheit raffte ihn hinweg, bevor er das Werk fertigstellen konnte. Die Plastikpuppe eines US -Soldaten, ein Sonderangebot im Kaufhof, steckte bis zum Bauch in Blumenerde. Der Rest des Körpers oberhalb dieser Bedeckung war durch eine Zellophanhülle geschützt (oder darin gefangen); auf letzteres deuteten zwölf Stangen an den Rändern des Gebildes, die Gitter darstellen konnten. Am Mund der Puppe und (aus dem Erdreich hervorragend) angesetzt an der Stelle der Puppe, wo bei einem Menschen der Pißstengel säße, war je ein Wasserhahn angebracht. Wurde er aufgedreht, strahlte oder tropfte Flüssigkeit.
Einem Soziologen der Frankfurter Schule erläuterte Beuys die Skizze der Installation so: Menschen sind zweigeteilt. Begegnen sie Verhältnissen, die sie verletzen (wie bei einem Soldaten im Krieg, einem Unfallopfer oder einem Menschen, der Arbeit leistet, die er kaum erträgt), so antwortet er mit Leugnung. Insofern leben wir Menschen in zwei unterschiedlichen Realitäten, die nur gemeinsam menschlich sind (wie bei Tresoren, zu deren Öffnung zwei Schlüssel gebraucht werden). Der Soziologe bezeichnete den Einfall mit einem damals geläufigen Ausdruck als »Antirealismus des Gefühls«. Das Gefühl wehrt sich gegen eine Wahrnehmung, die es nicht ertragen will, durch eine Illusion, die sie ersetzt. Umgekehrt, ergänzte Beuys, ist ein solches Gefühl auch immun gegen Überredung und Propaganda, weil Menschen als erfahrene Illusionsfabrikanten (und so voller Klugheit) die Lügen ebenfalls verleugnen, die aus den wirklichen Verhältnissen kommen. Weder eine kasernierte Arbeit noch eine Gefangenschaft machen deshalb bis zum Nullpunkt unglücklich. Kurz vor diesem Nullpunkt macht die Hoffnung Sprünge. Was sie in Ihrer Installation nicht vermag, antwortete der Soziologe. Ihre Puppe wird im Erdreich festgehalten. Menschen sind keine Puppen, antwortete Beuys. Warum dann die Installation mit der Puppe? Wegen des »Antirealismus des Gefühls«.
Unabweisbarkeit im Eigensinn der Arbeitskraft
Marianne Herzog ( Von der Hand in den Mund. Frauen im Akkord, S. 22f.) beschreibt eine Röhrenschweißerin, die nach etwa 30 Schweißungen jeweils eine ausholende flügelartige Bewegung mit ihren Armen macht, um in die funktionelle Arbeit an weiteren etwa 30 Röhrenteilen einzutreten. Für sie als Person wirklich (also Lebenslauf) ist die ausholende Bewegung, das übrige ist unwirklich.
Die Sozialforscherin erläutert das: »Um diese Zeit müssen Frau Bartz und Frau Winterfeld 30 Röhren geschweißt haben. Um diese Zeit haben ca. ²⁄³ aller Arbeiterinnen der Halle angefangen zu schweißen. Frau Heinrich ist gekommen, sie packt ihre Sauermilch aus und stellt sie auf die Maschine, sie stellt die Maschine an und kippt den ersten Kasten Material auf der Maschine aus, Frau Heinrich sitzt eine Reihe hinter Frau Winterfeld und Frau Bartz. Frau Heinrich hat eine kurzzyklische Arbeit. Das kann man an den Kästen erkennen, die als Tagespensum vor ihr aufgebaut sind, so daß sie dahinter fast verschwindet. Ein Arbeitsvorgang von ihr dauert 9 Sekunden: einen Fuß in die Hand nehmen, eine Strebe mit der Pinzette greifen, die Strebe an den Fuß schweißen. Den gleichen Vorgang mit der zweiten Strebe und anschließend den fertigen Fuß in den Kasten legen. Um das auszuhalten, hat Frau Heinrich im Laufe der
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