Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
des Finanzkapitals) handelte nicht mit der Wolle, die in den Vorratshäusern der Stadt lagerte, sondern mit der Wolle, die noch auf den Leibern der Schafe in Mittelengland auf die Schur wartete, auch mit der Wolle von noch nicht geborenen Schafen oder solchen, die sich noch auf dem Transport von Frankreich nach England befanden. Das betonte Evelyn Smith: Der negative Faktor des Mangels schafft das Vakuum, den Sog oder den Attraktor, der mächtiger ist als alle Fertigprodukte, einschließlich derjenigen der Silberschmiede von Florenz. In jenen Jahren brannten die Hütten der Bauern in England. Dort, wo bislang Menschen wohnten, sollten Schafe weiden. Das gehörte zur »spukhaften Fernwirkung« der Anwerpener Börse.
Als herauskam, daß Evelyn Smith, ohne die Zitate zu kennzeichnen, eine ältere Quelle aus New York ausgeraubt hatte, suchte ihr Doktorvater, der ihr wohlwollte, sie zu retten, indem er folgenden Gesichtspunkt herausstellte: Auch das Finden gehöre zu den akademischen Tugenden. Diese Tugend habe Evelyn Smith befolgt, indem sie die Arbeit jenes New Yorker Gelehrten wiederentdeckte. Sie habe dies vor dem Hintergrund der besonderen Aktualität des Themas zu Recht getan. Dieses Plädoyer überzeugte den Promotionsausschuß der Fakultät nicht. Die Promotion wurde nicht angenommen.
Alleinstellungsmerkmal
In einem von Frankfurts Hochhaustürmen saß Anfang August 2011 einer der ERFAHRENEN DOMPTEURE DES KAPITALS . Er hatte nur Augen für den Bildschirm seines Rechners. In dieser Höhe über der Stadt war die grelle und ungehindert einwirkende Sonne durch eine verstellbare Folie vor den Fenstern abgedämpft. Auf dem Bildschirm hätte man sonst wenig erkannt. So sah es aus, als trüge der Raum eine Sonnenbrille.
An diesem Tage wußten sich die Experten nicht zu helfen. Graphisch sahen sie den Börsensturz als eine senkrechte Linie, die innerhalb von vier Minuten den Verlust von vier Prozentpunkten des DAX signalisierte. Das entsprach einem Wert von einigen Milliarden Dollar. Eine Theorie für die Vorgänge besaß dieser Praktiker im halbwegs abgedunkelten Raum in der Höhe nicht. Hat denn ein Löwenbändiger eine Theorie? Er kennt seine Tiere. Diese Kreatur hier, die auf beiden Seiten des Atlantiks monströse Zerstörung anrichtet, war in ihrem Verhalten den Experten unbekannt. War es eine neue Spezies? Oder war es die Krise von 1929, nur anders kostümiert? Der legendäre Mann in seinem Vorstandszimmer, der sonst Märkte zu zügeln wußte, hätte sich gerne praktisch verhalten: Nüsse knacken, einen Apfel schälen, Mineralwasser eingießen – einen Kontakt zu irgendeiner Tätigkeit wollte er haben und nicht auf den Bildschirm starren und warten.
Abb.: Sternbild des Nilpferds.
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Abb.: Schreiber.
»Da kannst Du essen, Du eigensinniges Kind!«
Das eigensinnige Kind
Der Text des kürzesten der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen lautet:
»Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen; und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.«
Gottfried Keller hat in seinem autobiographischen Roman Der grüne Heinrich die Geschichte vom eigensinnigen Kind anders, deutlicher erzählt. Er erinnert sich, daß er plötzlich abends nicht mehr beten konnte; die Mutter verweigert ihm das Essen, kann dieses Verhalten aber nicht lange durchhalten, versöhnlich nähert sie sich ihm: »Da kannst Du essen, Du eigensinniges Kind!«
Heinrich Lee, der Erzähler des Romans, kehrt in späteren Jahren in sein Heimatdorf zurück und wird, als er in einer Ecke der Kirchhofmauer das »Grab des Hexenkindes« sieht, an eine Geschichte aus dem Jahre 1712 erinnert. Ein Kind aus vornehmem Hause sei einem Pfarrer übergeben worden, um von einer unbegreiflich frühzeitigen Hexerei geheilt zu werden, was aber mißlungen sei. »Vorzüglich habe es nie dazu gebracht werden können, die drei Namen der höchsten Dreieinigkeit auszusprechen, und sei in dieser gottlosen
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