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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Abmahnung änderte, war eines der Elemente, welches das Max-Planck-Institut zum Scheitern brachte.

    Abb.: Mit Tretauto im Winter im Schnee.
Filmszene aus der Arbeitswelt
    In der Zeit, in welcher R. W. Fassbinder und sein Produktionsteam (das damals Theater im Volksbildungsheim spielte und Filme machte) in der Kaiserstraße in Frankfurt residierten, hatte einer seiner Favoriten irrtümlich eine Drehgenehmigung in einer stillgelegten Fabrik des Rhein-Main-Gebietes besorgt, in der früher Schreibmaschinen und auch Werkzeugmaschinen hergestellt worden waren. Jetzt aber war das Unternehmen in Insolvenz geraten, und der Abriß stand bevor.
    Nachdem die Drehgenehmigung schon einmal da war, entschloß sich R. W. Fassbinder, sie auch zu nutzen. Es war dies der seltene Fall, daß er in der Arbeitswelt filmte. Er ließ vor Ort Schienen für die Kamera legen. Die Kamera sollte den Darstellern, die er eine weite Strecke über das Gelände laufen ließ, in stabiler Fahrt folgen: eine technisch perfekte Fahraufnahme stand sozusagen im Gegensatz zu der technisch ramponierten, zum Teil schon zerstörten Fabrik. In der Filmaufnahme selbst war Fassbinders Idee nicht zu erkennen, da man auf unbestimmtem Hintergrund immer nur die Köpfe der Darsteller in Großaufnahme sah. Dagegen besaßen die Fotos, welche die Dreharbeiten festhielten, einen hohen ästhetischen Wert. Man sah die Pflasterstraße und die in die Pflasterung eingelassenen Schienen für die Loren (oder eine werkseigene Schmalspurbahn), die noch dem 19. Jahrhundert entstammten, und darüber waren die technisch modernen Schienen für die Kamera aus dem Bestand der Firma Arnold und Richter gelegt; große Scheinwerfer vergossen ihr Licht, dies alles deutlich eine Welt des 20. Jahrhunderts.
    Wegen der Krise, die in jenen Tagen in der Öffentlichkeit um das Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod und der darin enthaltenen Rolle des »Juden von Frankfurt« ausbrach, und auch wegen des Drucks, der von einem Anschlußprojekt für den WDR ausging, blieb es bei diesem einmaligen Dreh, aus dem die beschriebene lange Fahrtszene hervorging. Fassbinder versah die etwa siebenminütige Sequenz später mit einem von einem seiner Schauspieler gesprochenen Text. Es handelte sich um Worte, die nicht unter den Begriff ARBEIT fielen: SPIELEN , GÄHNEN , BETEN , SCHLAFEN , GRÜBELN , HASSEN , WÜRGEN , RAUBEN , SICH STRECKEN , SPRINGEN , SICH ZUM STERBEN LEGEN , AUFWACHEN , RAUCHEN , SICH ANKLEIDEN , JEMANDEN AUSKLEIDEN , WEINEN , JAGEN , SAMMELN , SPÄHEN , TÜRMEN , KLEBEN ( ZUM BEISPIEL TÜTEN ), HORCHEN , ESSEN , TRINKEN , STECHEN , MURREN , SUCHEN , FINDEN , FRIEREN , TROCKNEN , WITZE ERZÄHLEN .
    Bei der Filmmischung (hier werden in einem Studio das geschnittene Filmpositiv und die entsprechend dem Negativ perforierten Tonbänder synchronisiert) fragte der Toningenieur Fassbinder, ob in den von diesen Worten wiedergegebenen Tätigkeiten nicht immer noch Arbeit versteckt sei. Fassbinder neigte nicht zu philosophischen Erörterungen, war ungeduldig.
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Irgendwie kann man immer sagen, daß »etwas arbeitet«.
Ein Stein, der am Wegesrand liegt, arbeitet aber nicht.
An ihm arbeitet das Wetter.
Das wäre keine Arbeit im menschlichen Sinn.
Beim Schlafen arbeiten die Zellen und die Verdauung.
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    Fassbinder hatte mit seinem letzten Satz eingelenkt, um das Gespräch abzukürzen. Und was wollen Sie mit dem Filmstück später anfangen, das wir hier mischen? Es ist sieben Minuten lang. Es gibt kein Programm im Kino oder im Fernsehen von dieser Länge, sagte der Toningenieur. Das Stück ist für die Ewigkeit gemacht, antwortete Fassbinder, der nervös war.

    Abb.: Arbeiter aus Nordostchina.
»Heile, heile Mäusespeck / In hundert Jahrn ist alles weg«
    Würde man mittels eines extremen cinematographischen Zeitraffers die 2000jährige Geschichte der Stadt Mainz in einem Film von 90 Minuten abbilden, sähe man zu Anfang ein römisches Castrum, an dessen Toren sich Kantinen oder eine Vorstadt bilden. Später entsteht eine mittelalterliche Metropole, umgeben von Agrikultur. In dieser Metropole grenzt sich eine bürgerliche Handwerkerstadt ab gegenüber der Herrschaft des Erzbischofs. Während der Französischen Revolution wird Mainz von Revolutionstruppen besetzt und auf kurze Zeit zu einem französischen Departement. In jenen Tagen war es üblich, auf geschmückten, von Pferden gezogenen Wagen die Göttinnen der Vernunft, der Fruchtbarkeit, der Republik und andere Idole zu den von Gott

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