Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
geräumten Kirchen zu fahren, zur Feier der revolutionären Neuerungen. Nach dem Ende von Napoleons Herrschaft wurden diese Festwagen aus den Arsenalen hervorgeholt und (unter Wiederaufnahme der römischen Saturnalien und mittelalterlicher Traditionen) zum Vergnügen der Mainzer für die Karnevalsumzüge verwendet. Inzwischen ist aus Mainz eine preußische Provinzstadt mit industriellen Vororten geworden. Dieses Mainz wird im Zweiten Weltkrieg durch Bomben zerstört. Neuerdings ist die Stadt auf den alten Grundrissen von Neubauten bedeckt.
Der digitale Peters
Eine Gruppe von Computerexperten übertrug die Daten der WELTGESCHICHTE NACH PETERS unter Anleitung von Martin Weinmann in ein elektronisches System. Der Geschichtsatlas verwandelte sich so in einen elektronischen Garten bzw. in eine Maschine, in welcher »begehbare Geschichte« möglich war. In diesem Werk kann der Nutzer je 6000 Jahre Geschichte in Asien, Mesopotamien, am Nil, in Europa, in Amerika und bei den Antipoden parallel verfolgen. Die Geschichtsverläufe sind als Ströme, Bäche oder Flüsse nebeneinander dargestellt. Anklickbar sind jeweils an den »Knotenpunkten der Geschichte« die Kästen mit Notizzetteln, die Peters angelegt hat.
Die Künstler hatten die Peters-Programme in der ausgedienten Halle eines Flugzeugwerks als Raum-Installation auf sechs Leinwände projiziert. In den drei Dimensionen des Raumes konnte man die Programme variieren. Das geschah in Zusammenarbeit mit Edgar Reitz und dessen Team, der mit seiner Installation VARIA - VISION bereits 1965 in analoger Filmtechnik auf 36 Breit- und Normalleinwänden ein ähnliches Raum-Kino erprobt hatte. So zeigte jetzt, aus Daten der Peters-Programme gespeist, eine der Schleifen (= Programm von je 36 Filmen in Gesamtlänge von 140 Minuten, projiziert auf sechs Kanälen, bezogen auf ein Thema, einen Wirklichkeitsausschnitt oder einen Zeitfluß) die Ausbreitung des MONOTHEISMUS von dessen Frühgeburt in Ägypten unter Amenhotep IV . bis zu den neuesten monotheistischen Religionsgründungen in den USA und in der Karibik. Die Farbe für die rigide Verehrung des EINEN GOTTES war rot, die für Vielgötterei, Beimischung von Magie und früherer Götterwelten blau oder grau. Der Besucher ging unter diesen Flimmerbildern dahin. Ton war für diese Schleife nicht vorgesehen.
Eine andere Geisterkammer von 36 Projektoren, die Projektionen auf sechs Leinwände brachten (am Boden, an den vier Wänden und in der Kuppel der Decke), befaßte sich mit den Flüssen des Geldes, den Strömen der Waren und des Kapitals und von deren Derivaten von Mesopotamien bis heute.
Die beliebteste Simulation hieß »14,5 Milliarden Jahre Kosmos«. Sie besaß hohe Authentizität. Das Max-Planck-Institut für Astrophysik und extraterrestrische Physik in Garching hatte diese Schleife bereits als Leihgabe angefordert.
Eine vierte Installation (die Programme wurden zeitlich nacheinander gespielt, weil es derzeit nur eine Halle gab; es sollten aber wegen des Publikumserfolgs mehrere solcher Installationsräume eingerichtet werden) zeigte die Orte, an denen das Feuer, die Werkzeuge und die ersten Höhlen angelegt wurden. Sukzessive hatten Filmemacher Szenen aus jenen frühen Tagen in Zusammenarbeit mit der BBC als Blue-Box-Effekte hergestellt. Spätere Passagen dieser Schleife zeigten das Aufkommen der Maschinen, umflossen von den Migrationen der Menschheit ( march of mankind ). Zuletzt kamen die »Flüsse des Wissens«. Von Interesse für die Besucher: daß das Wissen in den USA sich in drei Staubecken zentriert (rotschraffiert), nämlich im Silicon Valley, einschließlich Stanford und San Francisco, im Umkreis von Boston und im Süden Kaliforniens. Während die graugelben Ströme und Sümpfe der Unterversorgung den mittleren Westen, mit Ausnahme des Bezirks Chicago, ausmachen.
Abb.: »Ansicht der Geschoßdreherei VII von Krupp in Essen mit roter Fahne auf dem Dach am 9. November 1918.« Die rote Fahne ist mit Farbstift auf dem Photo handkoloriert worden.
Ein Film über den »Gesamtarbeiter«
An einem dunstigen Dezemberabend des Jahres 1918 sah der ungarische Filmregisseur Mihály Kertész (später verfilmte er als Michael Curtiz Casablanca ) in Budapest vor seinem geistigen Auge ein Filmbild: die ARBEITERKLASSE IM WELTMASSSTAB . Er hatte in vielen Zeitungen darüber gelesen. Zu dieser Zeit waren die Filmstudios der ungarischen Hauptstadt vom alten Personal leergeräumt und von jungen Intellektuellen, Dichtern, Filmemachern,
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