Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)
eine solche Menschmaschine in der Realität zu werden, und hat eigentlich auch nie an einer Vereidigung auf diese Fahne teilgenommen.
Ohne diese Trennungen wird niemand ein Erwachsener, folgert Ingrid Zuse und findet damit die Zustimmung ihrer Forschergruppe. Man kann aber auch sagen, daß aufgrund solcher Trennungen, die ja jede für sich die Störung einer organischen Integrität bedeuten, im emanzipatorischen Sinn keiner wirklich ein Erwachsener wird. Wieder anders gesagt: Wäre es möglich, die Trennungen zu vermeiden, so entstünde ebenfalls nichts Emanzipatorisches, da ein ganz unrealistisches Wesen entstünde, das zu nichts in der Gesellschaft paßt. 11
Patrioten ihrer Kinderzeit
Eva, die sieben Jahre lang sein Leben begleitete, war mit Th. W. Adorno darin im Einverständnis, daß sie beide, auch gestützt durch Hinweise im Werk von Marcel Proust, es grundsätzlich ablehnten, die Kinderzeit, die sie in sich trugen, je zu verlassen. Sie mochten sich äußerlich wie Erwachsene aufführen, ganze Wochen lang, ein ganzes Arbeitsleben lang, kaum kamen sie zusammen, vereinigten sie sich als Kinder. Wir haben es nicht nötig, sagten sie, unserem Glück abzuschwören.
In dieser Woche waren sie in Lyon verabredet. Der Gelehrte sollte dort einen Vortrag in französischer Sprache mit dem Thema »Die Entfremdung als Lehrmeister« halten. Im Hotel aber harrte er vergebens auf die Ankunft der Geliebten. Sie hatte in Frankfurt das Flugzeug verpaßt, lange gebraucht, um zu einem Telefon zu gelangen, und dann Zeit verbraucht, die Nummer des Hotels in Lyon zu ermitteln, die sie verkramt hatte. Jetzt gab sie die Nachricht von dem Fiasko durch.
Stunde für Stunde wartete der sechsjährige Junge in dem berühmten Mann auf »das Kind«. Er war gewöhnt an positive Überraschungen: Erfüllung eines Wunsches, schon ehe dieser zutage trat. Davon war im regnerischen Lyon nichts zu haben. Man kann vor allem Wünsche nicht wechseln wie ein Hemd. Er hatte keinen anderen Wunsch zur Hand als den, daß sie endlich zur Tür des Hotels hereinträte. Mehrmals ging er aus seinem Zimmer im zweiten Stock nach unten vor die Tür. Als die Zeit dafür gekommen war, hielt er mürrisch seine Rede. Der Abend war vorüber. In der Nacht landeten keine Maschinen aus Frankfurt in Lyon.
Spätvormittags kam sie dann zerzaust vom Flughafen angefahren. Da ging es schon um die Vorbereitungen für die Rückreise. Er hatte viel Zeit gehabt, sein mitgeführtes Schreibheft mit Notizen zu füllen. Das wenigstens war von Nutzen (wenn auch nicht glücklich machend). Nichts hatte ihn von der Arbeit abgelenkt. Wieso spricht man eigentlich in Bezug auf das Schreiben von einer Arbeit? fragte er sich. Es ist eine Sucht und ein Trost. Warten dagegen auf jemanden, der nicht kommt und dessen Kommen einer innig begehrt, kann als Arbeit gelten.
Im unbequemen Hotelbett herzten sie einander für eine kurze Weile. Dann fuhren sie mit dem Zug nach Hause zurück. Die Piloten streikten. Das hätte noch gefehlt, daß »das Kind« überhaupt nicht eingetroffen wäre. Vor den Fenstern des Speisewagens fette Wiesen. Hier wollte keiner von beiden aussteigen. In der Ferne sahen sie Bergkuppen, von denen sie annahmen, daß sie in einem der vergangenen Kriege eine Rolle gespielt hätten. Adorno war es gelungen, die schuldbewußte Verpatzerin des hoffnungsreichen Ausflugs aufzuheitern. Wenigstens dieser Erfolg.
Spielerischer Umgang im Amt
Ein bedeutender Physiker und Atomforscher gründete gemeinsam mit dem Soziologen Jürgen Habermas ein Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen in der technisch-wissenschaftlichen Welt. Der Physiker, der aus einer angesehenen schwäbischen Adelsfamilie stammte, die schon viele Regierungschefs und Spitzenbeamte gestellt hatte, war es gewohnt, seinen jeweiligen Interessen zu folgen, und diese wechselten wie das Wetter, auch abhängig davon, auf wen er an dem betreffenden Tage traf. So bildete sich hinter ihm, wie man es oft beobachtet, wenn hinter spielenden Kindern eine lange Spur an liegengelassenen Sachen entsteht, eine Schlange abgebrochener Vorhaben, nicht zu Ende geführter Projekte, von denen jedes für sich als interessant gelten konnte, wobei alle gemeinsam aber einen Schuldenberg an Unerledigtem errichteten. Für Habermas war das nicht vereinbar mit dem Begriff einer ernsthaften Arbeit. Der undisziplinierte Umgang dieser Art, den der verwöhnte Physiker an den Tag legte und der sich weder durch freundliche noch durch strenge
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