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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Vater um 11.30 Uhr aus der Arztpraxis im ersten Stock, die aus drei Räumen besteht, in den Garten. Der Weg führt durch das Treppenhaus, durch die Pendeltür in die Diele, in das Eßzimmer und von dort in den Wintergarten. Ohne dieses Treibhaus könnten sich die tropischen Pflanzen in der kalten Jahreszeit nicht erhalten (noch nach der Zerstörung 1945 aber stehen die Palmen zwei Winter ohne den Glasschutz und die Heizung, ehe sie absterben – Leben ist zäh). Diese TROPEN sind von der REALITÄT DRAUSSEN durch eine verglaste Veranda abgeteilt. Da nur entweder die Tür vom Wintergarten zur Veranda oder die von der Veranda zum Garten geöffnet werden kann, entsteht in dieser Schleuse keine Zugluft.
    Die zwei großen Rondelle des Gartens (daneben der Steingarten und der Walnußbaum) trennt ein fast oval angelegter Teich, keine Natur, sondern ein aus Beton gegossenes Becken. Aber in diesem Gefäß haben Wasserpflanzen und Tiere eine »naturwüchsige« organische Suppe erzeugt, die man, von Jahr zu Jahr angereichert, nicht einfach Wasser nennen kann. Sie ist ein ähnlich künstliches Produkt wie der Wintergarten, der nur wenige Meter entfernt ein Klima imitiert, das im Naturzustand Tausende von Kilometern entfernt wäre.
    Seit Mitte Dezember sind Garten und Teich von Schnee bedeckt. Gerade zwei Wochen alt ist die dünne Eisdecke auf dem Wasser, von Schnee überweht und auf ihre Tragfähigkeit nicht prüfbar. Darüber die harten Harzwinde. Mein Vater fror in seinem weißen Arztkittel, in dem er aus der Praxis heruntergeeilt war. Vom Rande des Teiches prüfte er mit einem Stock die Konsistenz des Eises, unmerklich zitterten seine Knochen, was er in seinem Eifer kaum bemerkte. Er war in Eile. Die Patienten im Wartezimmer, Privatpatienten, ungeduldige Leute. Dennoch stieg er bedachtsam auf das Eis des Teiches. Mein Vater ist ein durchweg vorsichtiger Mann.
    In den Anfangstagen der Vereisung des Teiches, sobald er die Fläche für betretbar hielt, schlug mein Vater mit einer Spitzhacke Löcher in die Eisdecke. In die Öffnungen, denen er nicht allzu nahe kommen durfte, da die Stabilität des Eises in deren Nähe unberechenbar war, steckte er Bündel aus Stroh, die der Chauffeur vorbereitet hatte. Das Stroh kam aus Klein Quenstedt. Die enge Öffnung hielt die Bündel fest, hier froren sie ein. Es blieben aber mit den trockenen Halmen enge Röhren, welche die Fische im Teich mit Sauerstoff versorgten. Mein Vater nannte das »den Fischen Freiheit geben«. Er meinte damit, daß die kristalline Absperrung durch das Eis nie vollständig sein sollte. Es schwammen unter der Eisdecke dicke Karpfen und fettleibige Goldfische. Ihnen galt die Einfühlung meines Vaters.
    Wieso erkältete sich mein Vater nicht bei solchem Tun? Warum zog er nicht seinen Mantel über, wie es selbst bei Krankenbesuchen in nächster Nachbarschaft seine Gewohnheit gewesen wäre? Nie ging er »unangezogen« aus dem Haus. Garten und Teich aber gehörten zum Haus, und gegen Erkältung schützt ihn vermutlich der Atem zahlreicher von Husten und Schnupfen betroffener Patienten, der ihm so viele Viren und Bakterien einbrachte, daß er – wie Mithridates von Pontos – eine Immunität gegen Gift entwickelt hatte. Er hielt sich für abgehärtet. Auch dachte er nicht an die Gefahr. Er war sicher, daß man sich nur erkältet, wenn man an die Kälte denkt. Bei seinen festen und schnellen Griffen, mit denen er die Löcher herstellte und das Stroh darin befestigte oder wenn er in späteren Tagen die Konsistenz des Strohs prüfte und die Büschel erneuerte, hatte er keine Gelegenheit für besondere Gedanken.
    Warum aber stürzte mein Vater sich so zuverlässig auf das Rettungsunternehmen? Schon bei der Überwindung der Uferböschung, ohne die einer nicht auf das Eis gelangt, hätte er abrutschen können. Wie erst hätte er fallen können bei den Gängen zwischen den Löchern über die tückische Konsistenz des Teiches. Er trug mit einer gewissen Eitelkeit, aber auch aus Standesgründen in seiner Praxis Lackschuhe, also Abendschuhe mit glatter Ledersohle. Was ihn beschützte, war wiederum der Eifer, die Konzentration auf die Sache, die er betrieb. Auch strebte er wieder ins Warme, zurück zum Dienst. Beruflich war er ja nicht Gärtner oder Fischzüchter.
    Zur Sorgsamkeit jener Generation von 1892 gehörte die »Zuverlässigkeit des Tuns unter allen Umständen«. Hatte die Runde der Halberstädter Gesellschaft sich zum Beispiel bei einer Veranstaltung des Domklubs mit

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