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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Unbestimmtheitsprinzip. Die Sprachverwirrung ist Mangel an Bestimmtheit. Das Produktionsprinzip ist vom Abstraktionsprinzip unterjocht. Ohne Abstraktion kein Turmbau, keine Sprachverwirrung. Der Turmbau soll vermutlich Feinden imponieren, sie entnerven, ihren Willen vernichten.
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    Abb.: Arbeiter aus Sinkiang auf dem Wege zu einer weit entfernten Arbeitsstelle.

Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd
    13. März 1967
    Lieber Axel,
    [...] Du kannst nicht wissen, daß diese Frage mich seit geraumer Zeit beschäftigt, und zwar im allerernstesten Zusammenhang, nämlich dem, daß [...] die Barbarei sich unablässig reproduziert. Schon im Kommunistischen Manifest findet sich die Ahnung davon. [...] Ich würde nun sehr gern mit Dir einmal darüber geredet haben, wie und ob man in Deinem Plan diese Intention einsenken kann – es sei denn, daß eben dies, wie ich fast vermute, bereits Deine Absicht ist. Ein solcher Film käme einer Sache sehr nahe, die mich immer mehr beschäftigt: der Frage nach der Kälte. In dem Vortrag über Auschwitz habe ich darüber gesprochen, plane aber doch, wenn meine großen Pläne etwas weiter sind, einmal einen Essay über die Kälte zu schreiben. Mir ist gegenwärtig die wirklich unvergleichliche Stelle aus »Abschied von gestern«, wo Lexi auf die Vorhaltungen des Untersuchungsrichters sagt: Ich friere auch im Sommer. Darum geht es wirklich, im allertödlichsten Ernst. [...]
    Alles Herzliche von Deinem alten Teddie
    26. Mai 1967
    Lieber Axel,
    [...] Und es ist mir aus tausend Gründen daran gelegen, Dich bald zu sehen, auch um wegen der Idee eines Films über die Kälte mit Dir zu sprechen. [...]
    Herzlichst stets Dein
    Teddie
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    Bei der Anspielung in Theodor W. Adornos Brief vom 13. März 1967 geht es darum, daß die Protagonistin des Films, Anita G., überführt wurde, den Pullover einer Arbeitskollegin gestohlen zu haben. Der Richter fragt sie nach dem Motiv. Er findet die Beute geringfügig angesichts des Urteils, mit dem die Angeschuldigte rechnen muß. Zur Zeit des Diebstahls war Sommer. »Wieso«, fragt der Richter, »haben Sie zu diesem Zeitpunkt einen Pullover entwenden müssen?« Das sei nach der Lebenserfahrung ungewöhnlich. Darauf antwortet Anita G. (gespielt von Alexandra Kluge): »Ich friere auch im Sommer.«
    Wesentliche Eigenschaften, ohne welche die Menschheit nicht überlebt hätte, stammen aus der Eiszeit. So z.   B. die für Warmblüter wichtige Unterscheidung zwischen heiß und kalt: Grundlage aller GEFÜHLE . Insofern kann man sagen, daß wir Menschen aus der Kälte stammen. Zugleich wird man aber beobachten können, daß Herzenskälte dauerhaft nicht zu ertragen ist.

Menschenfeindliche Kälte / Die »gescheiterte Hoffnung«
    Infolge einer Verwechslung wird Caspar David Friedrichs Bild »Das Eismeer« auch als »Die gescheiterte Hoffnung« bezeichnet. Kann Hoffnung scheitern? Ähnlich vielseitig wie unser Verhältnis zur Kälte ist unsere Beziehung zur Hoffnung. Für Menschen kann es, solange sie leben, keinen Nullpunkt der Hoffnung geben. In der Nähe ihres Kältetodes wird die Hoffnung feurig.
Menschenfeindliche Kälte
    Unter den für das Menschengeschlecht widerwärtigsten Arten der Kälte ist die nasse Kälte die schlimmste. In einer nassen Wolljacke, die Cordhose feucht auf der Haut, starb ein Mann auf dem Weg zu seinem Haus. Die WINDKÄLTE , ein ähnlicher Feind. Dagegen ist trockene Kälte bei unbewegter Luft aushaltbar, auch bei unverhältnismäßig tiefen Temperaturen.
    Herzenskälte: Die von ihm verlangte Gleichgültigkeit, der Verrat an seinem Kameraden, den er befehlsgemäß zu erschießen hatte, erhöhte die Herzschlagfrequenz und den Blutdruck des Kapos Hans Schwiers. Seine Herzwand erhitzte sich in gefährlicher Weise, während er die sogenannte »kalte Entscheidung« produzierte, die von ihm verlangt wurde. Trotz dieser Gefährdung seiner ganzen Natur versagte der Täter bei seiner Arbeit nicht; er fiel nicht tot um, er funktionierte. Insofern sei nicht der Einzelne »kalt«, sondern die Organisation, die den Einzelnen »in die Gemeinschaft einschweißt«, so SS -Standartenführer Ohlendorf.
Stroh im Eis
    In den Wintern ist das Haus Kaiserstraße 42 in allen drei Stockwerken durch eine Zentralheizung beheizt, die, 1912 eingerichtet, jedes Jahr im Spätherbst, nachdem aus Spargründen die Bewohner zwei Wochen gefroren haben, störungsfrei in Funktion tritt. An jedem Tag, an dem das Thermometer eine Temperatur unter 0 Grad anzeigt, geht mein

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