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Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition)

Titel: Das fünfte Buch: Neue Lebensläufe. 402 Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kluge
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Nachfeier (oder später, in der Zeit der Besetzung durch die Rote Armee im Haus des Kommandanten, jetzt als dezimierte Gemeinschaft) betrunken, dann mochte es sein, daß die Praxis mit einer Stunde Verspätung geöffnet wurde, also um 9 Uhr statt um 8 Uhr. Niemals aber hätte mein Vater im Winter den Zeitpunkt um 11.30 Uhr versäumt, an dem er die Behandlung der Patienten unterbrach und nach dem Stroh im Teich sah. Als empfände er den Luftmangel der Fische in seiner eigenen Lunge. Die Mitempfindung bewegte ihn stärker als der Mangel an Nüchternheit, der sich in starken Kopfschmerzen und auch äußerlich in rotgeäderten Augen zeigte. Mein Vater gehörte zu jenem Menschentyp, mit dem ein Volk durch Notzeiten kommen konnte, die doch an diesen Sohn seiner Mutter nie so herantraten, wie der Charakter dafür geeicht war. Einen glücklichen Mann nannte er sich. Seinen Vornamen ERNST ließ er gern bespotten. In zärtlichen Momenten ließ er sich von Frauen »Ernstchen« nennen, als ob es die Verkleinerungsform der Ernsthaftigkeit gäbe.
»Die gescheiterte Hoffnung«
    »Und doch war diese in voller Fahrt gebremste, aber noch über 100 Meter weiterrutschende Hoffnung meine eigene ...«
    Anne Weber
    Im Jahre 1822 hatte Caspar David Friedrich eine Polarlandschaft gemalt (das Bild ist nicht erhalten): EIN GESCHEITERTES SCHIFF AN GRÖNLANDS KÜSTE IM WONNEMOND . Am Bug des Schiffes war die Aufschrift »Hoffnung« zu lesen. Das war ein durchaus üblicher Schiffsname. Das großformatige Bild »Das Eismeer«, das später entstand, wurde mit dem verschollenen ersten Bild verwechselt und erhielt so den Namen DIE GESCHEITERTE HOFFNUNG . Das Bild wurde zu Friedrichs Lebzeiten nicht verkauft. Gerhard Richter sah es in der Hamburger Kunsthalle.
    Friedrich hat eine Polarlandschaft nie unmittelbar gesehen. Die Konsistenz des Eises kannte er vom aufbrechenden Wintereis der Elbe, das bizarre Barrieren bildete: »Mit scharfen, spitzen Eisplatten, die sich übereinander lagern.«
    Die Phantasie des Bildes geht auf Zeitungsberichte sowie auf Panoramen zurück, in denen Aussteller in Prag und Dresden in den Jahren 1822 und 1823 die populäre Situation »Winteraufenthalt einer Nordpol-Expedition«, ein Boulevardthema, beantworteten. Kommentatoren haben behauptet, das getürmte Eis, das man auf Friedrichs Bild sieht, bezeichne die Ewigkeit Gottes, das GESCHEITERTE SCHIFF , das vom Eis zerdrückt wird, die Ohnmacht und Vergänglichkeit der Menschen. Sie sagen, das Bild dementiere die Hoffnung, Gottes Wesen rational zu verstehen. Danach, erwidert Dr. Detlef Sturm, wäre jedoch nicht alle Hoffnung gescheitert, sondern nur diese. Die enorme Farbstärke, meinen wiederum andere, beweise, daß es Friedrich zumindest nicht um die Darstellung des »Schreckens des Eises« gegangen sei, sondern um dessen ERHABENHEIT . Die Schichtung der Eisschollen lasse an die Stufen eines Tempels denken, so daß die Eisplatten zum blauen Himmel hinzustreben scheinen: »Eine Apotheose illusionslos wahrgenommener Objektivität.«
    Nach der Besichtigung des Bildes in der Hamburger Kunsthalle saßen Elfriede Ewers und Carla Stiffels, die sich erst seit kurzem kannten, noch lange bei Kaffee und Sahne. Ihnen war aufgefallen, daß das Bild im Katalog mit »Das Eismeer / Die gescheiterte Hoffnung«, im Ausstellungsraum aber nur als »Das Eismeer« bezeichnet war. Die Wortwahl DIE GESCHEITERTE HOFFNUNG hatte Elfriede beeindruckt.

Was findest du besser, den Titel oder das Bild?
Es kommt ja nicht darauf an, was ich meine.
Wieso?
Es kommt doch angesichts des Bildes auf mein Urteil gar nicht an! Du sollst kein Urteil abgeben, wenn es um Erhabenheit geht, so steht es wenigstens im Katalog.
Mir fällt auf, daß kein wirklicher Beobachter in der Szene so hoch im Norden anwesend sein könnte. Er würde erfrieren, könnte sicherlich nicht versorgt werden und würde nicht zurückfinden, um von seinen Eindrücken zu berichten. Man müßte schon einen Glastunnel bauen, ihn beheizen, mit irgendeiner Schiffsanlandung oder einem Hubschrauberlandeplatz verbinden, um eine Landschaft wie die des Malers Friedrich der Besichtigung durch Menschen zuzuführen. Das hat mich verblüfft.
Und du meinst, das will das Bild uns sagen?
»Eine Blume namens Nirgendwo«. Und wieso wäre das eine »gescheiterte Hoffnung«?
Es ist ja auch nicht gesagt, daß das Bild »Die gescheiterte Hoffnung« heißt. Sicher ist nur der Name »Das Eismeer«.
So wie man hinfährt, man wirft einen Blick auf das Erhabene, und auf

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