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Das Fuenfte Evangelium

Das Fuenfte Evangelium

Titel: Das Fuenfte Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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von Hochstaplern mit Vorliebe genutzt; denn ein Mensch im Ausnahmezustand verliert die Kritikfähigkeit. Ich will sagen, es wäre durchaus denkbar, daß Sie in einer solchen Ausnahmesituation einen Mann, der auf Sie zukam und behauptete, er sei Kleiber, als diesen erkannt haben.«
    »Wir hatten uns siebzehn Jahre nicht gesehen«, sagte Anne entschuldigend. »Aber er hat genauso ausgesehen wie Kleiber. Es war Kleiber!«
    »Er kann es nicht gewesen sein, Madame!« entgegnete Déruchette heftig und legte die Hand auf die aufgeschlagene Seite der Illustrierten. »Sie müssen sich mit dem Gedanken abfinden!«
    Anne sah dem Chefredakteur ins Gesicht. Der Mann, dem sie noch vor wenigen Augenblicken eine Ohrfeige geben wollte, gewann zunehmend an Sympathie. »Sie haben sicher geglaubt, hier kommt eine Verrückte, und vermutlich sind Sie noch immer dieser Ansicht, Monsieur!«
    »Aber keineswegs!« erwiderte Déruchette. »Das Leben besteht aus Verrücktheiten. Davon lebt unsere Illustrierte. Ich habe gelernt, damit umzugehen, und ich habe die Erfahrung gemacht, daß diese Verrücktheiten, geht man ihnen erst einmal auf den Grund, oft gar nicht so verrückt sind, wie es zunächst den Anschein hat, daß sie vielmehr nur das Ergebnis einer logischen Entwicklung sind.«
    Die Worte des Chefredakteurs machten Anne von Seydlitz nachdenklich. Am liebsten hätte sie dem Mann ihre ganze Geschichte erzählt; aber dann kam ihr in den Sinn, daß Déruchette für sie ein wildfremder Mensch war und daß sie in ihrer Vertrauensseligkeit daran ging, den gleichen Fehler zu wiederholen, den sie mit Kleiber begangen hatte. Deshalb ließ sie den Mann in dem Glauben, es handle sich um eine Liebesaffäre, nichts weiter, und seine folgende Frage bestätigte auch, daß Déruchette nichts anderes vermutete:
    »Sie müssen sich jetzt klarwerden, Madame, wen Sie geliebt haben, Kleiber oder die Person des Unbekannten. Die Frage, ob man einen Menschen in der Person eines anderen lieben kann, ist von vielen Dichtern aufgegriffen und negativ beschieden worden; aber das soll Ihrer Entscheidung keinesfalls vorgreifen.«
    Im Augenblick vermochte Anne von Seydlitz selbst nicht zu sagen, wem ihre Zuneigung galt. Liebte sie Kleiber, oder liebte sie den Mann, den sie für Kleiber hielt? Aber diese Frage schien ihr auch weniger wichtig als die unerwartete Situation, die dadurch entstanden war, daß Kleiber nicht Kleiber war.
    Für wen arbeitete der falsche Kleiber? Hatte er ihr seine Entführung nur vorgespielt, und stand er in Wirklichkeit in den Diensten der Orphiker? Sein spurloses Verschwinden deutete darauf hin. Fest stand, daß dieser falsche Kleiber sie um das Pergament und alle ihre Kopien gebracht hatte. Anne wußte nicht einmal, in welches Schließfach er die Dokumente gebracht hatte. Sie hatte ihm ja vertraut.
    Gewiß, manchmal hatte sie sich gewundert, wenn ›Kleiber‹ auf ihre Fragen merkwürdige Antworten gegeben hatte, aber dann hatte sie sich gesagt, siebzehn Jahre sind eine lange Zeit, und in diesem Zeitraum gerät vieles in Vergessenheit.
    »Und Sie haben keine Ahnung, wo der falsche Kleiber sich aufhalten könnte, Madame?«
    »Er hatte eine Wohnung an der Avenue de Verdun. Aber dort wohnen jetzt irgendwelche Araber.«
    »Kleiber in der Avenue de Verdun!« Déruchette lachte. »Nie im Leben hätte Kleiber am Canal Saint Martin gewohnt! Kleiber war ein Mann, der Maßhemden von Yves St. Laurent trug und Koffer von Louis Vuitton benutzte; er wohnte in einem Appartement am Boulevard Haussmann, einer der ersten Adressen in Paris. – Was wollen Sie jetzt tun?«
    Anne von Seydlitz kramte in ihrer Handtasche und zog ein Streichholzheftchen hervor. Sie öffnete es und reichte es Déruchette. Auf der Innenseite stand, in flüchtiger Handschrift hingekritzelt, zu lesen: Via Baullari 33 (Campo dei Fiori). »Ich weiß nicht, ob das von Bedeutung ist«, bemerkte Anne, »aber in einer so aussichtslosen Situation klammert man sich auch an Kleinigkeiten. ›Kleiber‹ weiß nicht, daß ich dieses Streichholzheftchen besitze. Es fiel ihm mit seinem Taschentuch aus einer Tasche. Sagt Ihnen die Adresse etwas? Offensichtlich italienisch. Aber Italien ist groß.«
    Déruchette betrachtete die Schrift und gab Anne das Heftchen zurück: »Ich kenne nur einen Campo dei Fiori, und der ist in Rom. Hatte Kleiber – ich meine, der falsche Kleiber – Kontakte nach Italien?«
    »Davon ist mir nichts bekannt«, erwiderte Anne, »aber ich halte das aus bestimmten Gründen

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