Das Fuenfte Evangelium
Bücher.«
»Können Sie das näher erklären?«
»Unter Gnosis oder Gnostizismus versteht jeder etwas anderes, und das hat seinen Grund. Es gab in den ersten Jahrhunderten der Zeitwende gnostische Philosophen und Theologen, die sich auf die Suche nach dem Ursprung und Wesen des Menschen machten. Kirchlich-gläubige Gnostiker wie Origines oder Clemens von Alexandria wollten dabei den christlichen Glauben stützen. Nichtkirchliche Gnostiker wie Basilides oder Valentinus machten daraus eine altorientalische Mystik. Klar, daß die einen zu Feinden der anderen wurden, wenn sie behaupteten, die Welt sei das fragwürdige Werk eines unvollkommenen, bösen Schöpfergeistes. Also nichts von dem lieben Gott, der gütig über den Wassern schwebt.« Rauschenbach kicherte in sich hinein.
»Aber zurück zu unserem Handschriftenfund: Der Kairoer Antiquitätenhändler brachte seinen Codex in der Hoffnung, er werde dort einen Käufer finden und einen annehmbaren Preis erzielen, nach Amerika. Vergeblich – wie sich herausstellte. Kein Sammler, kein Museum schien sich für die alte Handschrift zu interessieren. Jahre später tauchte das gute Stück in Brüssel auf. Es hatte inzwischen den Besitzer gewechselt, und der bot es auf dem Kunstmarkt an. Ein Schweizer Mäzen kaufte den Codex und schenkte ihn dem C.-G.-Jung-Institut in Zürich. Dort wird er noch heute aufbewahrt, und er trägt seither den Namen Codex Jung.«
»Und die anderen elf Bücher aus diesem Fund?«
»Eine abenteuerliche Geschichte! Sie galten nach ihrer Entdeckung zunächst als verschollen, und man mußte das Schlimmste befürchten. Aber ein französischer Koptologe, der den im Museum aufbewahrten Codex zu Gesicht bekam, berichtete vor der Pariser Akademie der Wissenschaften über die Handschrift und ihre mögliche Bedeutung. Der Bericht erschien in einer Kairoer Zeitschrift, und daraufhin meldete sich ein älteres Fräulein, sie habe von ihrem Vater, einem Kairoer Münzenhändler, diese elf Codices geerbt und sei bereit, sie dem Koptischen Museum zu verkaufen. Kaufpreis 50.000 Pfund. Das war eine stolze Summe, aber sie war dem Wert der Objekte durchaus angemessen, enthielten diese doch etwa tausend eng beschriebene Seiten in koptischer Sprache und – das hatte der französische Professor inzwischen herausgefunden – nicht weniger als achtundvierzig verschiedene gnostische Schriften. Aber den zuständigen Stellen fehlte das Geld, und nun, da die Bücher bekannt waren, gab es auf einmal überall in der Welt Interessenten für die kostbaren Stücke. Die ägyptische Regierung schob dem jedoch einen Riegel vor, indem sie, obwohl keine Stelle bereit war, die geforderte Summe zu bezahlen, die elf alten Folianten in einer Kiste versiegelte und dem Museum zur Aufbewahrung übergab. Sieben Jahre lagen sie dort herum, es wurde gefeilscht und gehandelt, inzwischen brach die Revolution aus, und die Ägypter hatten andere Sorgen. Schließlich mußte die rechtmäßige Besitzerin ihre Forderungen einklagen. Jetzt weiß man zwar, wo diese Codices zu finden sind, aber ihren Inhalt kennt man nur auszugsweise.«
»Wie ist das möglich?«
»Dafür gibt es viele Gründe, harmlose und weniger harmlose. Wissenschaftler sind eitle Leute. Einer, der sich einmal in die Materie eingearbeitet hat, ist selten bereit, sich in die Karten schauen zu lassen, und manche arbeiten deshalb ein halbes Leben an so einem Objekt. Die Kopten vertreten in Ägypten eine winzige Minderheitenreligion: Staatsreligion ist der Islam, und daher ist das Interesse der Regierungsstellen für die Aufarbeitung koptischer Religionsgeschichte denkbar gering. Aber es gibt für die Nichtveröffentlichung solcher Texte noch einen anderen Grund, und der ist vielleicht der interessanteste.«
»Sie machen mich neugierig.«
»Nun, diese uralten Dokumente sind von sehr gescheiten Menschen verfaßt, die der Nachwelt etwas mitteilen wollten, die etwas wußten, wovon die Masse der Menschen keine Kenntnis hatte, Geheimnisse der Menschheit sozusagen.«
»Und Sie wollen damit sagen, daß es auch heute noch solche Geheimnisse gibt?«
Rauschenbach nickte: »Ich bin sogar überzeugt davon.« Er nahm das Rotweinglas, kippte den Inhalt mit gurgelnden Lauten in sich hinein und wischte mit dem Handrücken über seinen Mund.
Anne sah ihn an. So reden Sie doch weiter, wollte sie sagen. Aber sie schwieg. Später, dessen war sie sich bewußt, würde sie sich ärgern, weil sie die Gelegenheit hatte verstreichen lassen, aber sie hatte
Weitere Kostenlose Bücher