Das Fuenfte Evangelium
Tag auf den anderen aus Paris. Wie er später erfuhr, war Avril einem Algerier nach Afrika gefolgt.
Vossius lächelte, während er hinüberblickte zum Palais de Chaillot; er lächelte zum ersten Mal an diesem Tag, und dabei kam ihm der Gedanke, daß es wohl auch das letzte Mal in seinem Leben gewesen sein könnte.
In diesem Augenblick, in dem es für ihn keine Zeit gab, in der für Vossius nur ein schwarzes Loch existierte, in das er hineinspringen würde, fühlte er, wie seine Arme ungestüm auf den Rücken gerissen und gegen den Körper gedrückt wurden – er war wehrlos.
»Keine Bewegung, Monsieur!« Zwei Männer waren von links und rechts auf ihn zugetreten, und während der eine seine Arme auf dem Rücken festhielt, tastete der andere mit kundiger Routine seine Kleidung ab, zog aus der Jacke seine Brieftasche und aus der Hose das braune, kantige Fläschchen. »Monsieur«, sagte der eine höflich korrekt, »Sie sind vorläufig festgenommen. Folgen Sie uns ohne Widerstand!«
Das alles kam so schnell, so unerwartet, daß Vossius keine Worte fand zu protestieren, daß er es ohne Gegenwehr über sich ergehen ließ, wie der eine ihm auf dem Rücken Handschellen anlegte, was Schmerz verursachte. Aber die größte Qual des Augenblickes lag nicht in diesem Schmerz, sondern darin, daß sie ihn hinderten, in das große schwarze Loch zu fliegen, wie er es sich erträumt hatte.
4
N atürlich wußte Vossius genau, warum sie ihn festgenommen hatten, und er ahnte, wohin man ihn bringen würde. Deshalb stellte er auch keine Fragen und folgte den Männern zu einem alten, blauen Peugeot, der vor dem Taxistandplatz am Quai Brauly geparkt war, und nahm in ziemlich unbequemer Haltung auf dem Rücksitz Platz.
Die Polizeipräfektur am Boulevard du Palais, ein paar Schritte von Notre Dame auf der Île de la Cité gelegen, vermittelt von außen einen durchaus freundlichen Eindruck und ähnelt damit allen öffentlichen Gebäuden der Stadt, die beim Betreten ihr Gesicht verändern und ihren Charme ins Gegenteil verkehren. So auch die Präfektur, die von außen an einen Märchenpalast erinnert wie der Louvre, im Innern aber an das Labyrinth des Minotaurus, ein Eindruck, den auch Säulen, Treppen und Balustraden mit Ornamenten nicht zu ändern vermögen.
Vossius wurde in ein Zimmer im zweiten Stock gebracht, wo ihn ein Kommissar namens Gruss in Empfang nahm, in aller Form, und nach Namen, Geburtsort und -datum, Beruf und Wohnort fragte, während die zwei Männer in Lederjacken schweigend dabeisaßen.
»Sie wissen, Monsieur«, sagte Gruss mit gespielter Höflichkeit, »daß Sie einer Straftat beschuldigt werden und daher die Aussage verweigern können, aber« – und damit änderte sich der Tonfall seiner Stimme und klang auf einmal drohend – »das würde ich Ihnen nicht raten, Monsieur!«
Gruss nickte einem der Lederjackenträger zu. Der erhob sich und öffnete eine Seitentür. Herein trat ein an seiner grauen Uniform und Mütze kenntlicher Museumsdiener des Louvre. Der Mann nannte seinen Namen, und Gruss fragte mit einer Handbewegung auf Vossius, ob er diesen wiedererkenne.
Der Museumsdiener nickte und erklärte, ja, dieser Mann sei auf das Leonardo-Gemälde zugetreten, habe ein Fläschchen hervorgezogen und den Inhalt gegen das Gemälde geschleudert, nicht auf das Gesicht der dargestellten Dame, sondern über das Dekolleté, und noch bevor er habe eingreifen und den Mann festhalten können, sei dieser verschwunden, mein Gott, das kostbare Gemälde!
Der Museumsdiener wurde hinausgeführt, und Gruss stellte Vossius die Frage: »Und was haben Sie dazu zu sagen, Monsieur?«
»Stimmt!« erwiderte Vossius.
Der Kommissar und die beiden anderen sahen sich an.
»Sie geben also zu, das Säureattentat auf Leonardo da Vincis ›Madonna im Rosengarten‹ verübt zu haben.«
»Ja«, bestätigte Vossius.
Das unerwartete Geständnis verunsicherte den Kommissar so sehr, daß er unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte, als säße er auf einem heißen Stein. Schließlich fand er die Sprache wieder, aber gleichzeitig änderte sich der Tonfall seiner Stimme in unnatürliche Liebenswürdigkeit, und er fragte, als redete er mit einem Kind: »Und wollen Sie uns vielleicht auch verraten, warum Sie das getan haben, Monsieur. Ich meine, gibt es einen Grund für Ihre Straftat?«
»Natürlich gab es einen Grund dafür. Oder denken Sie, ich hätte so etwas aus Langeweile getan?«
»Interessant!« Gruss erhob sich hinter seinem Achtung
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