Das Fuenfte Evangelium
geäußert, er habe keine Verwandten und sei deshalb auch nicht gewillt, eine Madame von Seydlitz zu empfangen.
Nun aber setzte Adrian sein journalistisches Talent ein. Er ließ sich mit dem Stationsarzt verbinden und deckte ihn mit einem Redeschwall ungehaltener Vorwürfe ein, von denen Anne nur soviel verstand, daß ein Mann in so beklagenswertem Zustand natürlich nicht in der Lage sei, sich seiner einzigen Angehörigen zu erinnern; für sie sei es jedoch ein Herzensbedürfnis, den geliebten Onkel wiederzusehen.
Diese Worte blieben nicht ohne Wirkung. Der Arzt bat sie in den zweiten Stock, Besucherzimmer 201.
So in etwa hatte Anne sich das Besucherzimmer in einer Psychiatrie vorgestellt: helle weiße Wände, vergitterte Fenster, neben dem Eingang ein kantiger Stuhl, in der Mitte des Raumes ein uralter zerkratzter Tisch, darum herum vier schäbige Stühle, an der endlos hohen Zimmerdecke eine Milchglaskugel als Lampe. Es roch ekelhaft nach Bohnerwachs und Hering.
4
N ach kurzer Zeit erschien Vossius in der Tür, begleitet von einem Pfleger und einem Arzt. Der junge Doktor, ein ziemlich arroganter Typ, sagte schnoddrig, sie hätten fünfzehn Minuten Zeit, und verschwand. Der Pfleger schob Vossius, der helle Anstaltskleidung trug und einen ziemlich apathischen Eindruck machte, zu dem Tisch in der Mitte des Raumes und nahm selbst auf dem Stuhl neben der Tür Platz.
»Sie sind ein fieser Typ!« rief Kleiber dem Pfleger auf deutsch zu. Der lächelte. Anne erschrak.
An Anne gewandt sagte Adrian: »Ich wollte nur wissen, ob er Deutsch versteht. Du siehst, er versteht kein Wort. Die meisten Franzosen sprechen nicht deutsch, finden es aber selbstverständlich, daß alle Deutschen Französisch können.«
Der Professor hatte auf einem der häßlichen Stühle Platz genommen, und er legte ruhig die Hände übereinander, als wartete er auf eine Erklärung.
Annes Herz schlug bis zum Hals. Sie wußte nicht, wie die Begegnung enden würde, ob der Professor überhaupt ansprechbar war. Sie wußte nur, daß dieser rätselhafte Mann, der ihr schweigsam und erwartungsvoll gegenübersaß, ihre letzte Hoffnung darstellte.
Als wollte sie sich Mut machen, holte Anne tief Luft und begann: »Professor, ich weiß, Sie kennen mich nicht, ich mußte zu einem Trick greifen, um an Sie heranzukommen. Natürlich sind wir nicht verwandt, aber Sie können mir helfen. Sie müssen mir helfen. Verstehen Sie mich, Herr Professor Vossius?«
Der Mann schlug die Augen nieder, er schien sie verstanden zu haben, jedenfalls begannen die Falten, die seinen Mund einrahmten, auf einmal zu zucken. Aber das alles dauerte unglaublich lange, und Anne wiederholte unruhig: »Haben Sie mich verstanden, Professor?«
Vossius bewegte langsam die Lippen: »Holen – Sie – mich – hier – raus«, sagte er ruhig, aber klar verständlich. »Holen Sie mich hier raus, ich kann alles erklären.«
»Wie fühlen Sie sich, Herr Professor. Ich meine, werden Sie einigermaßen gut behandelt?«
Der Mann schob den Ärmel seines linken Armes zurück. Auf dem Unterarm waren deutliche Einstiche zu erkennen.
»Sie haben ihn ruhiggespritzt«, sagte Adrian. »Das ist in allen psychiatrischen Anstalten der Welt gleich.«
Anne legte ihre Hand auf die des Professors: »Wie können wir Ihnen helfen, reden Sie!«
Vossius mühte sich ein Lächeln ab. »Ich kann alles erklären. Holen Sie mich hier raus.«
»Wir holen Sie hier raus«, sagte Kleiber beschwichtigend, »aber dazu brauchen wir Ihre Hilfe. Wir brauchen alle Informationen, die dazu notwendig sind. Verstehen Sie?«
Vossius nickte.
»Sie wissen, was Sie getan haben, Professor?« fragte Anne aufgeregt. »Sie wissen, warum Sie hier sind?«
Vossius sah Anne einen Augenblick an, als versuchte er sich zu erinnern, dann nickte er heftig mit dem Kopf.
»Warum haben Sie das getan? Warum haben Sie Säure auf das Gemälde geschüttet?«
Da brach es aus dem Mann heraus: »Warum, warum, alle fragen warum, und wenn ich es ihnen erkläre, wenden sie sich ab und sagen, ich sei verrückt. Ich sage kein Wort mehr!«
Anne kam ganz nahe an Vossius heran, als wollte sie ihm ein Geheimnis anvertrauen: »Professor, hat es etwas mit Barabbas zu tun?«
»Barabbas?« Vossius hob den Blick und musterte erst Anne von Seydlitz, dann Kleiber, schließlich sprang er auf und zeigte mit dem Finger auf die Frau und rief: »Wer hat Sie geschickt?«
Mühsam gelang es Anne, den Professor auf seinen Stuhl zu drücken, und es dauerte eine ganze
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