Das Fuenfte Evangelium
Reserviertheit ab und sagte, nachdem sie sich Annes Geschichte angehört hatte: »Ich hoffe, es schockiert Sie nicht, wenn ich Ihnen sage, daß mich das alles nicht sehr verwundert.«
Anne und Adrian sahen sich an. Die Aussage kam überraschend.
»Nein«, fuhr Aurelia Vossius fort, »nicht einmal Marcs Tod überrascht mich. Er war vorauszusehen. Ich glaube sogar, sie haben ihn in den Tod getrieben.«
»Sie?«
»Sie! Die Orphiker, die Jesuiten, die Forschermafia, was weiß ich, wer alles hinter ihm her war.«
Anne und Adrian horchten auf: »Orphiker, Jesuiten, Forschermafia? Was hat das zu bedeuten?«
Die kleine Frau nestelte an einer Schachtel Mentholzigaretten. Ihre Finger verrieten jetzt große Nervosität. »Sie beide sind vermutlich die einzigen, mit denen ich offen darüber reden kann«, sagte sie, während sie sich eine Zigarette anzündete, »jeder andere würde mich für verrückt erklären.«
9
W enn ich es mir recht überlege«, begann Aurelia, während sie in kurzen Abständen kleine Rauchwolken in die Luft blies, »begann das Dilemma schon vor zehn Jahren, als Marc nach Kalifornien kam. Er hatte einen Lehr- und Forschungsauftrag der University of San Diego in seinem Fachgebiet Komparatistik. Er galt als einer der Besten der Welt auf seinem Gebiet; aber er machte gleich zu Beginn seiner Arbeit einen entscheidenden Fehler, er legte sich mit den Kunsthistorikern an, konkret, er sagte ihnen, den Experten, was diese noch nicht wußten, auch gar nicht wissen konnten, und das hatte zur Folge: Marc hatte von Anfang an nur Feinde.«
»Und worum ging es dabei?«
»In einfachen Worten gesagt: Marc lieferte den Kunstprofessoren eine Theorie, nach der Leonardo da Vinci nicht nur ein genialer Künstler, sondern ein ebenso großer Philosoph war, der über geheimes Wissen verfügte, geeignet, die Welt zu verändern. Das paßte natürlich den Kunstforschern nicht, weil ein Literaturforscher ihnen einen ihrer Größten streitig machen wollte, und sie meinten, Vossius solle lieber bei Shakespeare und Dante bleiben.«
»Ähnliches hat uns Vossius in Paris berichtet«, bemerkte Anne. »Das Säureattentat auf das Gemälde Leonardos richtete sich also keineswegs gegen das Gemälde oder seine Darstellung, schon gar nicht gegen Leonardo, sondern es richtete sich gegen die Kunstforscher und ihre sture Haltung. Das hat uns Vossius erklärt. Aber Sie erwähnten ›Orphiker‹ und Jesuiten?«
Mit einer abfälligen Handbewegung tat Mrs. Vossius ihren Unmut kund. Schließlich quetschte sie ihre Zigarette aus und murmelte irgend etwas wie: »Gangster sind das, alles Gangster.«
Anne und Adrian verständigten sich mit den Augen. Es schien ihnen nicht ratsam, mit weiteren Fragen nachzubohren. Wenn Aurelia Vossius reden wollte, würde sie es aus freien Stücken tun. »Der Professor«, meinte Anne eher beiläufig, »war sehr stolz, in dem Gemälde einen Hinweis auf Barabbas zu finden.«
Mrs. Vossius blickte auf: »So, hat er das?« Ihre Stimme klang bitter.
»Ja, auf dem Gemälde kam eine Halskette zum Vorschein, aus deren Steinen sich der Name ›Barabbas‹ zusammensetzen läßt.«
»Ach.« Aurelia schien verblüfft. »Dann wissen Sie ohnehin schon alles …«
»O nein, im Gegenteil«, beeilte sich Anne zu erwidern, »als wir, nachdem der Professor uns einen Einblick in seine Forschungen gegeben hatte, am folgenden Tag in die Klinik zurückkehrten, war er bereits tot.«
»Halten Sie das für einen Zufall?« fragte Aurelia Vossius kühl.
Anne erschrak. »Wie meinen Sie das, Mrs. Vossius?«
»Nun, ich glaube nicht daran, daß Marc eines natürlichen Todes gestorben ist.«
»Warum nicht, Mrs. Vossius?«
Aurelia Vossius schlug die Augen nieder und sagte mit einer gewissen Verlegenheit: »Ich nehme an, daß Sie meinen Brief an Marc gelesen haben. Dabei wird Ihnen klar geworden sein, daß wir uns nicht im Bösen getrennt haben. Ja, die Jahre mit Marc waren die schönsten meines Lebens.« Bei diesen Worten zerknüllte sie den Brief mit beiden Händen, dann fuhr sie fort: »Aber dann verdrängte sein Forscherdrang unsere Liebe. Es gibt Männer, die sind mit ihrem Beruf verheiratet; das ist schwer zu ertragen für eine Frau. Bei Marc war es anders, er sah in seinem Beruf eine Geliebte, und das führt unweigerlich zur Katastrophe. Er kannte nur noch einen Gedanken, seine Geliebte. Und als andere kamen, um ihm seine Geliebte streitig zu machen, da drehte er durch.«
Anne und Adrian hatten Schwierigkeiten, Aurelias Andeutungen
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