Das fünfte Foto: Lila Zieglers fünfter Fall (German Edition)
Aprilsonne. Mütter schaukelten lesend in Hängematten, während die Kinder die Blumen gossen oder auf Insektenjagd gingen, und die Männer die Liegestühle testeten.
Montagmorgen um halb vier begann für uns die neue Woche. Der gelbe Mond hing dicht über den Dächern von Gerthe. Vor der Garage eines Einfamilienhauses stand ein schmächtiger Mann mit Baseballkappe und rauchte. Neben seinen Turnschuhen auf dem Gehweg türmten sich zwei hüfthohe Zeitungsstapel.
»Seid ihr die Neuen?«, sprach er uns an. Seine Kippe glühte noch einmal auf. Dann ließ er sie aufs Pflaster des Gehwegs fallen und trat sie mit einer Drehbewegung seines Turnschuhs aus.
»Ich bin Torge. Bin als Vertretung für diese Tour eingesprungen. Normalerweise bin ich für Wattenscheid zuständig.« Torge sprach hastig. In kurzen Sätzen. Er drückte Danner eine Liste und mir ein liniertes Schulheft und einen Kugelschreiber in die Hand.
»Heute geht ihr mit, morgen macht ihr die Tour allein. Bis sechs müssen die Kunden ihre Zeitung haben. Das ist die Liste der Abonnenten.« Er deutete auf Danners Zettel. »Macht euch Notizen zur Tour. Sonst kommt ihr morgen ins Rotieren.«
Deshalb wohl das Schulheft.
»Schreibt auf, wo ihr die Straße überquert. Oder wo man ein Haus schlecht findet. Wenn ihr nur nach den Hausnummern geht, schafft ihr es nicht. Änderungen der Zustellung findet ihr jeden Morgen. Auf einem Zettel, der den Zeitungen beiliegt.«
Der Zeitungszusteller wippte auf den Zehenspitzen wie ein Sprinter vorm Start. Er war älter als Danner, mit der drahtigen Figur eines Radrennfahrers und einer vom Nikotin grauen Gesichtshaut.
»Der Lieferant deponiert die Zeitungen hier vor der Garage. Die gehört einem Kumpel von mir. Ich schließe die Hälfte ein und verteile erst links die Straße runter. Dann lade ich den zweiten Stapel auf und verteile nach rechts. Ihr könnt den Lieferpunkt ändern oder jeder eine Karre nehmen. Dann könnt ihr euch aufteilen und seid schneller.«
»Klingt gut«, nickte Danner.
»Noch Fragen?«
»Warum ist die Tour frei?«, wollte ich wissen.
Torge zuckte die Schultern. »Wir haben häufig Wechsel. Für viele ist Zeitungenaustragen nur ein Aushilfsjob. Studenten und Sozialhilfeempfänger bessern damit ihre Bezüge auf.« Der Zusteller fummelte seine Zigarettenpackung aus der Tasche und steckte sie wieder weg. »Das hier sollte erst nur eine Urlaubsvertretung werden. Dann hat demjenigen wohl das Ausschlafen zu gut gefallen. Plötzlich hieß es jedenfalls, die Tour wäre frei.«
Torge wuchtete den ersten Zeitungsstapel in eine Karre und wippte noch zweimal auf den Zehenspitzen. »Können wir jetzt?«
Gegen fünf passierten wir die Kleingärten und erreichten kurz darauf die Reihenhäuser in der Schwerinstraße. Inzwischen war der Vollmond hinter den Dächern der Wohngebäude abgetaucht. Nur die Straßenlaternen erhellten noch das trübe Grau der Dämmerung.
Im Laufschritt steckte Torge die Zeitungen in die dafür vorgesehenen Boxen. Der Zusteller schien jeden Briefkasten der Gegend zu kennen.
Der Pudel im Mantel, der mir schon einmal aufgefallen war, kam von einem frühen Gassigang zurück. Zielstrebig steuerte er einen Vorgarten in dem Reihenhauskomplex neben dem Gebäude der Hesskamps und Kopelskis an. Torge drückte dem Hundebesitzer seine Zeitung in die Hand.
Schröder, Archibald – Schwerinstraße 74, stand auf unserer Abonnentenliste. Auch dieser Pudelfreund gehörte zu den Menschen, die ihren vierbeinigen Begleitern mit der Zeit ähnlich sehen, bemerkte ich belustigt. Der Mann mit der Leine in der Hand war um die fünfzig, eher klein und dünn. Er hatte krause, blonde Locken und bewegte sich mit kurzen, aber eleganten Trippelschritten.
Torge und Danner waren bereits weitergegangen. Ich beeilte mich, sie einzuholen.
Pünktlich um sechs hatte Torge alle Zeitungen verteilt. Ich war allein durchs Hinterherlaufen ins Schwitzen geraten.
Ich dachte an die leere Kaffeedose in unserer Wohnung. Weil wir uns gewöhnlich bei Molle durchschnorrten, sorgten eigene Vorräte nur für Schimmel. Doch Molle stand jeden Abend bis Mitternacht in der Kneipe. Die Idee, vor Sonnenaufgang zu frühstücken, würde ihn nicht vor Freude aus dem Bett springen lassen.
Klick.
Teichlandschaft mit Seerosen. Dunkelgrüne, fleischige Blätter auf glitzerndem Wasser. Unzählige zartrosa Blüten. Aus dem Wasser ragende Bruchsteine. Goldfische und schwarz glänzende Molche, deren winzige Körper zwischen den Wasserpflanzen
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