Das Fünfte Geheimnis
mache ich möglich. Aber du, du hast das Messer. Ich spinne eine Million Möglichkeiten. Du schneidest dir einige heraus und mußt dann daraus die Zukunft weben.«
»Ich bin eine Heilerin«, gab Madrone zurück, »keine Weberin.«
»Kaum ein Unterschied«, kam verwehend die Antwort.
Kapitel 15
Maya war schon lange nicht mehr außerhalb der Stadt gewesen. Nun blickte sie sich um. Die Hügel waren noch grün, dank des langen Winterregens, die Bäume zeigten sattgrünes Laub. Die Strahlen der späten Nachmittagssonne ließen Blätter und Blüten rosig aufleuchten. Wunderschön, wie überall Knospen und erste zarte Blüten zu sehen waren, hervorsprießend mit Farbe und Duft und dem Versprechen auf spätere Früchte. Mayas Herz klopfte schneller, ihr wurde fast schwindlig vor Glücksgefühl, und sie fühlte sich wieder jung.
Sie ging langsam, gestützt von Bird auf der linken und Holybear auf ihrer rechten Seite. Nicht schlecht für eine alte Dame, von zwei so gut aussehenden, jungen Männern begleitet zu werden, dachte sie. Obwohl Bird ihr Sorgen bereitete. Sam sagte, daß die Operation erfolgreich gewesen war. Der Gipsverband um Birds Bein war schon vor Wochen entfernt worden, und Bird hatte sich ziemlich schnell der Krücken wieder entledigt. Das Gehen fiel ihm inzwischen leichter. Das schmerzhafte Zusammenzucken von früher war nun nur noch dann und wann zu beobachten.
Aber Maya traute ihm nicht. Wenn ihr Gewicht ihm jetzt zur Last wurde, er würde es ihr niemals zeigen. Bird fing Mayas ängstliche Blicke auf und lächelte sie an. »Es geht mir gut, Abuelita«, sagte er, »du kannst aufhören, dir Sorgen über mich zu machen.«
»Ich werde niemals damit aufhören. Besonders nicht in einer Nacht, in der wir es wagen, uns wieder mit unseren jüdischen Wurzeln zu vereinigen. Sich zu sorgen, ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Erbes, weißt du.«
»Dann sorge dich darum, wie ich Sams Aufmerksamkeit entgehen kann«, lächelte Bird spöttisch.
Sie waren eingeladen, die erste Nacht des jüdischen Passah-Festes im Levanah-Haus zu verbringen. Draußen im Nebelgebiet, wo auch Madrones Freundin Aviva lebte. Sam würde ebenfalls dort sein. Genau genommen war er es gewesen, der um Mayas Gesellschaft gebeten hatte. Sie war sich nicht sicher, wie sie zu ihm stand. In den letzten Wochen war er ein häufiger Besucher im Black Dragon House gewesen. Er kam, um Birds Genesung zu überwachen, aber es war auffallend, wieviel Zeit er bei Maya in der Küche verbrachte und Tee trank..
»Und wenn ich nicht will?«
»Dann sorge dich, wie Rios Geist abzuwehren ist. Und auch Johannas, übrigens.«
»Wir sind in solchen Dingen immer der Zeit voraus.«
Bird lächelte und hoffte, daß Maya es nicht sah, denn er wußte, es war ein gequältes Lächeln. Ja, es ging ihm besser, aber er fühlte sich immer noch wie eine unbeholfene Kopie seines alten Selbst. Er konnte nicht mehr so gut gehen, nicht mehr so arbeiten wie früher, geschweige denn so Musik machen wie einst. Und wie quälend erst die Gedanken, was wohl die Zukunft bringen mochte. Alles war verkehrt, völlig verkehrt.
Sogar das Wetter ist völlig verdreht, dachte er grimmig. Statt dieses lächerlichen Sonnenscheins sollten wir Sturmwolken haben, grauen Himmel, eine düstere Stimmung. Madrone war seit Monaten fort, nie kam eine Nachricht, außer, daß er manchmal in seinen Träumen mit ihr sprach. Davon erzählte er Lily ab und zu. Die Verteidigung hatte weitere Kundschafter gen Süden gesandt. Sie brachten die Nachricht mit, daß sich feindliche Armeen sammelten, sich vergrößerten und langsam die alten Autobahnen heraufmarschierten, die sie gleichzeitig reparierten.
Und doch waren die Rosenbüsche voller Knospen, und die Bewohner der City waren wie jedes Jahr mit dem ganz gewöhnlichen Frühjahrsputz beschäftigt, dem Ausbessern von Geräten und dem Setzen von Jungpflanzen. Er war an diesem Morgen zum Markt gegangen. Farmer aus dem Delta boten Säcke voller Reis feil, schwarze Bohnen, Soja, Broccoli und Artischocken vom letzten Winter, und es gab sogar erste reife Erdbeeren. Er hatte sich langsam durch die Menge gedrängt, um getrocknete Äpfel zu kaufen und Rosinen und Walnüsse, um Charoset zu machen, das traditionelle Essen, das ihr Beitrag zum heutigen Ritual sein würde.
Eigentlich ein gutes Jahr, dachte Bird, während er zwischen den Ständen herumschlenderte. Sam hatte ihn ermutigt zu gehen, aber erst seit einigen Tagen, hatte er sich stark genug gefühlt, sich
Weitere Kostenlose Bücher