Das Fünfte Geheimnis
weiter weg zu wagen. Es tat ihm gut, einmal etwas anderes zu sehen, als die Zimmer im Black Dragon House.
Erst jetzt, beim Herumschlendern merkte er, wie sehr ihm das alles gefehlt hatte. Das Schlendern, das Herumgucken, hier und da etwas einkaufen. Kurzum, das ganz normale Leben. Eingesperrt zu sein, war schlimm. Sich nicht mehr richtig bewegen zu können und deshalb am normalen Leben nicht mehr teilnehmen zu können, war fast ebenso schlimm.
Schlimm waren aber auch die Schmerzen und die Alpträume, durch die er immer und immer wieder erwachte, allein im Dunkeln, sie waren ebenso schlimm. Oder noch schlimmer. Er fühlte sich einsam, verlassen von den Lebenden und den Toten. Er hatte mit den anderen nicht darüber sprechen wollen, aber sie spürten etwas, und nach den ersten paar Nächten hatte Holybear schweigend eine Matratze in sein Zimmer geschleppt und schlief nun am Fußende seines Bettes.
»Das ist nicht nötig«, sagte Bird.
»Vielleicht möchte ich es«, sagte Holybear, während er den blauen Seidenmantel auszog, den er über seinem grünseidenen Pyjama trug und ihn ordentlich an die Rückseite der Tür hängte.
»Du möchtest fünfmal pro Nacht durch meine verrückten Träume geweckt werden?«
»Jawohl.« Holybear machte es sich auf der Matratze bequem und faltete seine Hände hinter dem Kopf. »Wenn die Träume dich wachmachen, möchte ich da sein. Falls du etwas brauchst. Und so weißt du, daß du nicht allein bist.«
So oder so, Bird schlief daraufhin jedenfalls besser. Und als Birds Verwundungen soweit geheilt waren, daß eine zufällige Berührung ihm nicht mehr gleich einen Schmerzensschrei entlockte, schlief Holybear bei ihm im Bett. Sein ruhiger Atem beruhigte Bird und hielt die Alpträume auf Abstand.
Aber Bird war noch immer beunruhigt durch die Begegnung im Supermarkt am Morgen. Er hatte einen Umweg gemacht, um den Bereich zu umgehen, in dem Musikinstrumente verkauft wurden. Aber als er sich umdrehte, um durch die Abteilung zu gehen, in der Musikinstrumente und High Tech-Artikel angeboten wurden, hörte er seinen Namen, und jemand umarmte ihn plötzlich so heftig, daß er beinahe sein Gleichgewicht verloren hätte. Er schwankte gefährlich hin und her, bis ein paar Hände ihn von hinten abstützten.
Die kleine, dynamische Frau, die ihn umarmt hatte, trat mit einem Grinsen einen Schritt zurück. Ihre dunklen Augen waren wie feuchte Halbmonde unter einem Schopf schwarzer Haare, die sie aus ihrem Gesicht schüttelte. »Ich habe gehört, daß du von den Toten auferstanden bist, wie – wie hieß der Typ noch mal, der in der Bibel vorkommt?«
»Lazarus«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihnen. Der Besitzer drehte sich um, so daß er ihn sehen konnte. »Schön, dich wieder zu sehen, Mann. Como estas?«
»Sachiko, Walker – auch schön, euch zu sehen.«
»Wie kommt es, daß du nicht zur Musiker-Gilde kommst, Boy? Wir könnten dich gut gebrauchen.«
Bird wies mit seinem Kinn in Richtung seiner Hand. »Ich spiele nicht gerade viel Musik heutzutage«, sagte er.
Er hatte gedacht, daß er über den Schmerz in dieser Sache hinweg war, aber er registrierte auf Sachikos Gesicht einen Schock, dann tödliches Entsetzen, dann Mitleid. Woraufhin er sein Gemüt sorgfältig verschloß, um alle Emotionen zu verbergen.
»Du brauchst keine Musik bei uns zu machen, nur Ideen zu haben«, sagte Walker. »Außerdem, wir sind deine Freunde, oder nicht?«
»Das war vor langer Zeit«, sagte Bird, »ich weiß nicht einmal, wer jetzt in der Gilde Mitglied ist.«
Walker fuhr fort, ihm über die Triumphe und Niederlagen der Musikervereinigung in den vergangenen zehn Jahren zu erzählen. Bird versuchte zu lächeln, aber als er der Liste der Toten zuhörte, empfand er nur Schmerz. Er erinnerte sich an das, was Madrone ihm gesagt hatte, daß sie ein Viertel der Stadt verloren hatten. Ja, es stimmte, und es tat weh.
»Komm mal vorbei«, drängte Sachiko ihn wieder. »Du kannst doch singen, nicht wahr, Bird? Und schreiben? Jeder Idiot kann Gitarre spielen, aber niemand kann Songs schreiben, so wie du es tust.«
Der Gedanke tat Bird wohl. Vielleicht stimmt das ja. Vielleicht wurde er doch gebraucht. Vielleicht war ein halber Musiker besser als gar keiner? Aber er konnte es dann doch nicht richtig akzeptieren. Vielleicht würde er auch auf anderen Gebieten seines Lebens niemals mehr sein als die Hälfte seines bisherigen Selbst, aber Musik war zu wichtig. Es war besser, es sein zu lassen, als der Göttin ein kitschiges
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