Das Fünfte Geheimnis
sich großartige Malereien befanden und deren grosse Schwingtüren auf eine Veranda führten. Jetzt füllten lange, einfache Holztische, bedeckt mit weißen Tischtüchern und umrandet durch eine seltsame Ansammlung verschiedener Klappstühle den vornehmen Raum. Aviva schenkte aus großen Karaffen ein und reichte Platten mit Matze, dem flachen, traditionellen Brot.
Sam kam ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. Er lächelte Maya zu, ein zärtliches Leuchten in seinen dunklen Augen, die unter seinen buschigen Brauen hervorblinzelten, und er umarmte sie länger als nötig. Also gut, mußte Maya zugeben, es gibt hier eine gegenseitige Anziehung, wenn ich mich mit so einem alten Genossen einlassen will - nicht, daß er nur zwei Jahrzehnte jünger ist als ich. Aber wen interessiert das schon? fragte sie sich, als sie die Bewunderung in seinen Blicken merkte.
Sam fragte: »Gibt es Neuigkeiten von Madrone?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid. Ich hoffe, es geht ihr gut. So jemand wie sie ist selten, wißt ihr? Ein seltener Geist.«
»Ich weiß.«
Er sah mit professionellem Blick auf Birds Bein. »Wie geht es der Hüfte?« fragte er.
»Besser, du alter Schlachter. Viel besser«.
»Und den Händen?«
»Langsam«, sagte Bird in einem Tonfall, der weitere Fragen abwehrte. Und langsam war das richtige Wort, das merkte jeder, während seine Hände beim Spielen geradezu über das Klavier krochen, als er Rosa einige einfache Übungen demonstrieren wollte. Manchmal bedauerte er, daß er Schwester Maries Anfrage akzeptiert hatte, dem Mädchen Klavierstunden zu geben. Aber sie war sehr überzeugend gewesen. »Rosa hat ihre gesamte Familie verloren«, hatte Marie gesagt. »Sogar das Baby ist letzte Woche gestorben. Oh, Bird, es würde ihr so viel bedeuten. Sie ist sehr musikalisch, und es würde ihr etwas von ihrem Selbst zurückgeben. Und außerdem, sie ist in dem Alter... du weißt schon.«
»Was weiß ich?«
»Sie ist ganz verliebt in dich.«
Tatsächlich: Rosa sah mit anbetenden, braunen Augen zu ihm auf, während er in die Tasten griff und innerlich fluchte und schwitzte. Sie war überdies ein nettes Mädchen, das sich sehr anstrengte und zweifellos einiges Talent hatte. Wenn sie nur aufhören würde, so verdammt viele Fragen zu stellen.
»Wie hast du deine Hände verletzt, Bird?«
»Ein Aufseher zertrümmerte sie mir, als ich im Gefängnis war, unten im Süden.«
Er antwortete höflich, schaute auf die Noten, weg von dem Schock in ihren Augen, der irgendwie seine eigenen Schmerzen intensivierte.
»Warum, Bird? Warum haben sie das getan?«
»Sie wollten, daß ich ihnen etwas sage, was ich nicht sagen wollte.«
»Was?«
»Diosa, ich weiß nicht mehr genau, was es war. Ich wollte ihnen nichts sagen, was sie gegen mich verwenden könnten.«
»Tat es weh?« fragte sie leise.
»Natürlich tat es weh. Hör zu, denk' nicht darüber nach, Liebes. Es passierte vor langer Zeit. Denk lieber darüber nach, wie du das Tempo bei diesen Triolen hinbekommst.«
Sie dachte darüber nach. Er erkannte es an der Art, wie sie ihn ansah, einer Mischung aus Mitleid und Anbetung, die ihn wünschen ließ, den Deckel des Klaviers zuknallen zu können und Marie zu bitten, einen anderen Lehrer zu finden. Aber er konnte es nicht tun, nicht einem kleinen Mädchen gegenüber. Und dieser Unterricht zwang ihn, wenigstens ein bißchen zu spielen, also konnte er mit einem klaren »Ja« antworten, als Sam ihn fragte, ob er weiterhin Übungen machte.
»Ich habe nichts bemerkt, das ich als Besserung ansehen könnte«, sagte Bird.
»Laß dir Zeit.«
»Ich bin nicht sicher, daß wir Zeit haben.«
Sam gab keine Antwort.
»Laßt uns beginnen«, rief Aviva laut. »Draußen, alle.«
✳✳✳
Dem Ritual selbst, seiner jüdischen Herkunft zum Trotz, dachte Maya, ist eine Prise Heidentum hinzugefügt worden. Sie konnte fast die Stimmen ihrer Großeltern hören, schnüffelnd in mildem Mißfallen, während Aviva sie in den Garten führte, um die Elemente zu segnen und die Vier Heiligtümer zu würdigen. Dann wuschen sich die Teilnehmer gegenseitig die Hände, als Akt der Reinigung und gingen langsam, in einer langen Schlange, wieder ins Haus zurück.
Als sie alle am Tisch saßen, hielt Aviva den Teller mit der gesegneten Nahrung hoch.
»Hier ist das Ei des Lebens und das Grün des Frühlings«, sagte Aviva. »Die bitteren Kräuter, die Symbol für die Bitterkeit der Sklaverei sind und die Hachse - in diesem Fall war es ein gebratener
Weitere Kostenlose Bücher