Das Fünfte Geheimnis
Stunde deiner Initiation, deiner Einweihung. Dies ist die Zeit, in der der wilde Flieder blüht.«
»Was muß ich tun?«
»Die nächsten neun Tage gehörst du nur uns.«
»Neun Tage! Ich weiß nicht, ob ich neun Tage lang meine Patienten allein lassen kann.« Sie blickte zögernd auf Hijohn, aber der zuckte nur mit den Achseln: »Wenn die Bienen rufen, gibt es keine Widerrede.«
»Aber Menschen sterben vielleicht. Und wenn ich nicht da bin, ist keiner da, der sie wirklich pflegen kann«, gab Madrone zu bedenken.
»Dafür werden viele andere gerettet, wenn du von uns neue Stärke gelernt hast«, sagte Melissa bestimmt. Und fügte hinzu: »Komm!«
Madrone fügte sich. Sie schlüpfte in ihre noch feuchten Kleider und folgte Melissa in die Wildnis des Canyons.
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Melissa führte sie auf einem geheimen Pfad über einen Gebirgskamm und hinunter in einen anderen Canyon. Auch hier war das Flußbett fast ausgetrocknet. Sie wanderten zu einer kahlen Anhöhe, unter ihnen hatte der Fluß Höhlen in den Felsen gewaschen. Manche waren groß genug, um einigen Menschen Schutz vor dem Wetter zu bieten. Vor einer dieser Höhlen saß eine Gruppe von Frauen, und jede von ihnen war auf die gleiche Art von Tausenden Bienen umschwärmt und bedeckt wie Melissa. Alle zusammen wirkten weniger wie Menschen, sondern vielmehr wie menschliche Energiebündel von ganz besonderer Art. Ein Tanz von summenden, schwirrenden Bienen umgab sie alle, bräunliche Wolken von Bienen umschwärmten sie bei jeder Bewegung.
Alle sahen Melissa mit ihrem Schützling herankommen. Alle grüßten mit hoheitsvollen Handbewegungen, welche die Bienen noch lauter summen ließen. Dieses Gesumm durchdrang Madrones Gehirn, füllte sie aus, verwischte jeden anderen Gedanken, zurück blieb nur ein leises Gefühl von Angst.
»Was geschieht nun?« flüsterte Madrone fragend. Aber von Melissa kam keine Antwort.
»Kein Grund, Angst zu haben«, beschwichtigte Madrone sich. Wo Angst ist, ist auch Stärke. Es ist nur alles so fremd. Eine ganz normale Angst vor der fremden Insektenwelt, einfach nur tief atmen, die Angst wegatmen. Aber die Angst blieb, und einige Momente lang war Madrone einer Panik nahe.
Dann war sie so dicht von Bienen umgeben, von ihrem Brummem, Summen und Schwirren, daß sie gar nicht mehr dazu kam, Angst zu empfinden. Hände zogen ihr das T-shirt über den Kopf, andere Hände zogen ihr die Jeans herunter, öffneten die Zöpfe und ließen das Haar frei. Honig strömte über ihren Körper, über ihre Hüften, Hände streichelten Honig sanft über ihre Brüste, Honig verklebte nun Augen und Haare. Als Melissa ihr eine Muschel an die Lippen setzte, war dies Madrones letzte Gelegenheit, sich zu widersetzen. Aber Melissa drückte ihr den Kopf sanft rückwärts und ließ die Flüssigkeit aus der Muschel direkt in Madrones Mund fließen. Madrone schluckte und schluckte und keuchte atemlos. Honiggeschmack auf den Lippen und ein Hauch von irgend etwas, was sie nicht zu erkennen vermochte, rann ihr die Kehle hinunter. Es durchrieselte sie heiß. Wärme füllte ihre Eingeweiden aus, entzündet sich zu einem feurigen Gefühl. In diesem Feuer verbrannte ihr Selbst, verbrannte die alte Madrone und eine neue entstand aus der Asche. Alles um sie herum schien ebenfalls verbrannt, alles um sie herum schien ihr neu und wunderbar.
Diese Süße. Sie tauchte ein in einen Ozean von süßen Gefühlen. Ihr Gefühl für Süßes schien sich verhundert-, ja vertausendfacht zu haben. Der Geruch des wilden Flieders in der Luft schien ihr so süß wie nie zuvor. Jeder Atemzug von diesem Duft erschien ihr wie ein Versprechen von Nahrung und Liebe und ewigem Leben. Süße beschwingte sie, öffnete ihr die Flügel. Sie schwebte in einer Luft voller Süße, hätte am liebsten ihre Nase tief in jede geöffnete Blüte gesteckt. Ihr Körper fühlte die magische Anziehungskraft des Nordpols ebenso wie sie die Gesetze der Schwerkraft ganz bewußt wahrnahm. Blütenblätter hüllten sie samtig ein, sie schmiegte sich in ihre duftigen Tiefen, füllte sich mit Nektar und Duft, tauchte ihre Zunge tief in die exquisite Helligkeit des Nektars. Süße, Süße überall.
Etwas in ihr explodierte und versuchte, diese Wolken von Aromen zu analysieren, sie zu benennen, zu beschreiben. Salbei, Flieder, Sykamoren, Eichen. Bei einigen gelang es ihr, bei den meisten nicht. Aber ich bin Madrone, kam es aus dem Dämmer ihres Bewußtseins, ich bin ich, ich bin Madrone.
»Kämpfe nicht gegen das Neue
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