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Das Fünfte Geheimnis

Titel: Das Fünfte Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Starhawk
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da oben zu erreichen, die Verkörperung allen Glücks. Drohne und Königin, endlich selig verbunden, Fleisch zu Fleisch, zwei sind eins, vereinigt im Glücksgefühl, die Ewigkeit entdeckend.
    Doch dann endet dieser Moment. Sterbend stürzt die Drohne zu Boden. Dem Sinn des Lebens war Genüge getan, der Pflicht dem Bienenstock gegenüber auch. Die Essenz des Lebens war auf die Königin übergegangen, der Fortbestand des Volkes gesichert. Madrone fühlte ein Ziehen und Zerren in ihrem Bauch, etwas quoll heraus. Der Bienenkorb war ein Gefängnis, voll süßer Sehnsucht drängte sie ins Freie, Bienenvolk und übriggebliebene Drohnen. Schwirrend zogen sie verrückte Kreise, einen fliegenden Ball formend, ein lebendes Kaleidoskop, dreidimensonal, jede Biene ein individuelles Wesen aber nichts ohne die anderen Bienen. Alle zusammen waren sie ein Lebewesen. Neue Bienen wurden geboren und andere starben.
    Körperlos flog Madrone über grenzenlose Ströme von Duft und Geschmack, und plötzlich erkannte sie alles auf eine Weise, die sie, eine Heilerin, niemals zuvor erlebt hatte. Sie erkannte den Duft ihres Körpers, wie sie ihn nie zuvor erkannt hatte. Erkannte, daß ihr Schweiß ganz verschieden riechen konnte, daß jeder Geruch eine andere Botschaft in sich trug, Gesprächsangebote, Mitteilungen, Einladungen. Die Bienen nahmen schnüffelnd und saugend Proben von ihrem Schweiß auf. Wie kam es, daß ihr nektarähnliche Tropfen aus den angeschwollenen Brüsten quollen? Madrone roch, schmeckte förmlich, daß sie eine süße Einladung ausschwitzte.
    Melissa berührte sanft Madrones Stirn, wo ein Stachel seine pochende, vibrierende Botschaft hinterlassen hatte. Mit einem winzigen, silbern aufblinkenden Messer schnitt sie eine blütenähnliche Wunde rund um den Einstich. Bienen schwärmten sofort herbei, um von der austretenden Flüssigkeit zu kosten.
    »Wir teilen unseren Nektar mit den kleinen Schwestern«, erklärte Melissa mit zärtlicher Stimme. Dann strich sie einen dicken, fast schwarzen Honigtropfen über die Wunde. Madrone würde nur eine winzige, blütenähnliche Narbe auf der Stirn zurückbehalten. Schweiß, den diese Blüte ausschwitzt, würde nektargleich süß sein, Nahrung für ihre kleinen Schwestern, die Bienen.

    ✳✳✳

    Langsam wurde Madrone bewußt, daß sie nicht mehr in jener Höhle am Flußufer lag. Sie wußte nicht, wieviel Zeit inzwischen verstrichen war. Wie lange hatte sie schon hier im Schatten dieser fahlen Sykamore gelegen? Bienen umsummten sie träge. Das Geräusch mutete Madrone anheimelnd an, war vertraute, heimatliche Musik. Es klang auch ein bißchen wie das müßige Geplauder von Freunden im Hintergrund ihrer Küche. Auch wer nur halb hinhörte, erfuhr immer das Neueste. Ein Stück Ahornbrot lag neben ihrer Hand. Halb abwesend fing sie an zu essen, und langsam kam das Erinnerungsvermögen wieder zurück. Ihr schwindelte, hatte sie Visionen gehabt? Ihr Blickfeld hatte sich unglaublich erweitert. Sah sie die Welt nun mit Insektenaugen, allumfassend, himmelweit, ganz anders als mit ihren Menschenaugen?
    Das Gesumm um sie herum wurde lauter, und ihre Vision von einer neuen Sehweise verschwand allmählich. Melissa saß neben ihr.
    »Wie fühlst du dich«, fragte sie leise lächelnd.
    Madrone wunderte sich, daß sie die Frage in Menschenworten hörte. Sie kamen ihr ungeschickt, grobschlächtig und auch völlig unnötig vor. Unnötig, wenn doch der leise Dufthauch ihres Körpers alles besagte. Zur Antwort drückte sie leicht von innen her auf ihre Stirnblüte, ein winziger Tropfen Nektar erschien. Der Geruch wehte zu Melissa und sie lächelte erfreut.
    »Du brauchst mir nichts mehr zu erklären«, strahlte Melissa, »aber du darfst deshalb deine eigene Sprache nicht verlernen. Du wirst sie noch brauchen.«
    Madrone schloß ihre Augen. Sie wußte, sie mußte auf die Frage antworten. Doch Worte erschienen ihr als Mitteilung unvergleichlich dürftig, mager und gefühllos, gegenüber der unendlich weiten Ausdruckswelt des Geschmacks und des Duftes.
    »Du mußt sprechen«, wiederholte Melissa.
    »Wozu?«
    »Weil du zurückkehren mußt in deine eigene Menschenwelt. Du wirst als Heilerin noch gebraucht. Die Welt der Bienen ist trotz allem nicht die deine.«
    Langsam erkannte Madrone die Wahrheit dieser Worte. Sie hat recht, sagte sie sich. Oder vielmehr, sie roch es. Aber die Welt der Bienen ist süß, bedeutet Ruhe und Frieden, bedeutet Geborgenheit im gemeinsamen Schwarm, im Zuammensein, im Vergnügen

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