Das Fünfte Geheimnis
»Möchtest du dich ausruhen?«
»Nein, laßt es uns hinter uns bringen«, sagte Madrone. Die zweite Hälfte war mit Birds Lied im Herzen leichter zu bewältigen. Aber als sie die andere Seite erreicht hatten, war ihr Hemd mit Schweiß durchtränkt, und als sie wieder auf dem Boden stand, bemerkte sie, daß ihre Knie zitterten. Begood landete neben ihr.
»Tapferes Mädchen«, sagte Littlejohn.
»Laßt uns gehen«, sagte Madrone.
✳✳✳
Die Hügel auf der östlichen Seite der Autobahn waren stärker besiedelt als die auf der westlichen. Sie wanderten einen Weg entlang, der von großartigen Wohnsiedlungen gesäumt war. Von Zeit zu Zeit kamen Autos vorbei, und die drei warfen sich hinter einen Busch oder versteckten sich hinter einem Baum, bis nur noch die Rücklichter zu sehen waren. Madrones Sinne waren wachsam. Sie konnte unsichtbare Rosen riechen, sie konnte Hunde in ausreichender Entfernung erschnuppern. Und so konnten sie deren Gebiet meiden und verhindern, daß sie zu bellen anfingen.
Es schien ihnen, als liefen sie seit Stunden herum. Madrone hatte Durst, aber sie nahm eine rohe Eichel in den Mund und ließ sich von dem zusammenziehenden Geschmack ablenken. Der Mond ging auf mit einer dünnen, abnehmenden Sichel. Madrone war müde, so müde, daß sie bemerkte, wie sie fast schon im Schlaf weiterlief. Es kamen keine Autos mehr vorbei; der Morgen dämmerte.
Sie waren noch hoch oben auf dem Bergkamm, als die Sonne den ersten rosa Schein auf den östlichen Rand der Ebene warf. Große Büsche gaben ihnen ein wenig Deckung, und Madrone schaute durch die hohen Gräser auf das vor ihnen liegende Panorama.
Die weite, flache Ebene des Tales war knochentrocken. Ein leichter Dunst lag über den durcheinandergewürfelten Formen von zusammengesackten Gebäuden und abbröckelnden Strukturen. Keine wahrnehmbaren Linien von Straßen oder Wegen und keine grünen Flecke unterbrachen das Flickwerk aus Grau und Braun. Nur hier und da ragten schwarze Stümpfe von toten Palmen in ungeraden Linien heraus, die verwilderten Wächter alter Avenuen.
Ein schmales, grünes Band umrahmte den Fuß der Hügel und rankte hinauf in einige der östlichen Canyons. Verglichen mit dem Graubraun der Ebene, sah das Grün fast obszön aus, zu hell irgendwie, fast künstlich. In den nahe gelegenen Kurven konnte sie reiche Häuser erkennen, umgeben von Terrassen mit angelegten Gärten. Weit im Osten ragten mit vertikalen Spitztürmen aus Metall und Glas die Hochhäuser von Downtown auf...
»Hurra«, sagte Littlejohn, während er sie eine Seitenstraße entlangführte, die bald an einem Drahtzaun endete. Dahinter führte ein ungepflasterter Weg in einen Canyon hinein. Sie erklommen den Zaun, krabbelten den Weg hinunter und erreichten die Deckung von Sträuchern im trockenen Flußbett gerade als die Sonne aufging.
Das Wort »Camp«, dachte Madrone, war eine riesige Übertreibung für das, was sie vorfanden. Es bestand aus zwei Männern und einer Frau, dichtgedrängt in einer Aushöhlung unter einem Busch.
»Drink deep«, flüsterten sie, ein Gruß, der sich für Madrone mehr und mehr wie der reinste Sarkasmus anhörte. Littlejohn entkorkte eine Wasserflasche und ließ sie zu einem sorgfältig abgemessenen Schluck herumgehen.
»Paßt auf«, warnte Madrone. »Habt ihr hier Wasser?«
»Ein oder zwei Tassen ist alles, was noch übrig ist«, sagte der Mann, der Madrone am nächsten saß. Er war klein und schlank, nicht vielmehr als ein Junge, aber seine braune, ledrige Haut ließ ihn uralt aussehen. »Sie nennen mich Big John«, sagte er augenzwinkernd. »Dies hier sind Joan Dark und Johnny Come Lately.«
Lately war ausgetrocknet und dunkel wie eine Bohne, die zu lange in der Sonne gelegen hatte, aber er hatte ein freundliches Grinsen und grüne Augen, die Madrone forschend musterten. Joan Dark war still, und Madrone roch, daß sie krank war und Schmerzen hatte.
»Bist du die Heilerin?« fragte Lately.
»Ja. Ich bin Madrone.«
»Kannst du dir Joan ansehen? Sie hat einen Streifschuß eingefangen, vor zwei Nächten, und der ist jetzt entzündet.«
Joan war dünn bis an die Grenze der Auszehrung, und ihre halbmondförmigen Augen blickten verschleiert, doch wachsam. Madrone wickelte eine Bandage vom sehnigen Oberschenkel der Frau. Der Gestank überwältigte sie. Die Wunde war nicht tief, aber das Fleisch drumherum war entzündet, und ein unheilvoller roter Streifen lief hinauf in ihre Leistengegend.
»Können wir etwas Wasser zum Waschen
Weitere Kostenlose Bücher