Das Fünfte Geheimnis
den Freeway hinter sich gebracht hatten, entschieden sie, auch bei Tag weiter zu marschieren. Gewiß, es war riskant, sie waren in dieser baum- und strauchlosen Gegend schon von weitem zu sehen. »Aber der Gegner ebenfalls«, meinte Madrone. Die Canyons boten sich als sichere Schlupfwinkel für den Notfall an. Begood ging voraus und bestimmte das Tempo, und so kamen sie gut vorwärts. Madrone war anfangs geradezu glücklich über den langen Marsch. Eine wunderbare Chance, den Rhythmus ihrer Seele und ihres Körpers wiederzufinden, und ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Sie fühlte sich wie befreit. Solche Wanderungen, ja selbst ein solcher Gewaltmarsch, setzten bei ihr stets neue Energien frei.
Sie ließ ihre Augen umherschweifen und achtete auf alles. Das war ihr durch ihre Bienenseele zur zweiten Natur geworden. Wie fast immer war sie durstig. Doch sie hatte gelernt, den Gedanken daran einfach abzuschalten, und auch jeden Gedanken an Hunger oder Müdigkeit oder an ihre trocken gewordene, ledrige Haut. Stattdessen genoß sie ganz bewußt die geschmeidige Kraft ihrer Muskeln und die zähe Härte ihres Körpers im Ertragen aller Widrigkeiten. Unter ihnen lagen die Hügel, Morgendunst stieg auf. Hinter ihnen ging die Sonne auf und tauchte die Landschaft in rosig-goldenes Licht. Im Süden lag die City zu ihren Füßen. Im Norden, soweit sie schauen konnten, breiteten sich zwischen den geraden Linien der Straßen die dunklen Schatten von Baracken und Militär-Depots aus. Sie konnten Menschen geschäftig herumlaufen sehen, Lichter blitzten auf und glitten die Straßen entlang. Ein Konvoi schwerer Militärlastwagen kroch langsam auf dem Freeway nordwärts.
Sie marschierten weiter. Die Sonne begann zu brennen, und nirgends bot sich Schatten. Nach einer Stunde härtesten Marschierens fühlte Madrone, wie ihre Widerstandskraft unter der glühenden Sonne allmählich dahinschmolz. Es fiel ihr immer schwerer, Dinge genau ins Auge zu fassen, alles verschwamm und flimmerte im Sonnenglanz. Ihr Kopf war bleischwer, und ihr eigentlich leichter Rucksack drückte sie schier zu Boden. In einem lichten Moment erkannte sie, daß sie den kritischen Punkt erreicht hatte, an dem Durst zur Austrocknung des Körpers führte. Es war nur noch ein Schluck Wasser in ihrer Flasche. Sie trank ihn, langsam, bewußt, jeden Tropfen auskostend.
»Wie weit ist es noch«, wandte sie sich an Littlejohn.
»Etwa zehn Meilen. Wir dürften gegen Abend dort sein.«
»Gibt es unterwegs irgendwo Wasser?«
»Das müßten wir schon stehlen.«
Die Unerbittlichkeit dieser Worte berührte Madrone erstaunlicherweise wenig. Sie fühlte sich nicht einmal erschreckt. Dabei wußte sie genau, was diese Kopfschmerzen und die schwarzen Punkt, die ihr vor den Augen tanzten, zu bedeuten hatten. Sie würde es nicht schaffen. Bei allen Hexen dieser Welt, sie konnte keine weiteren zehn Meilen durch die glühende Sonne marschieren ohne einen Tropfen Wasser.
»Ich schaffe es nicht«, hörte sie sich flüstern, »ich brauche Wasser.«
Littlejohn blickt sie scharf an. Ich habe noch nie zuvor so etwas zu ihm gesagt, dachte Madrone. Nie zuvor habe ich mich über irgend etwas beklagt. Er muß mir glauben.
»Ich hab noch einen Schluck in meiner Flasche«, sagte Begood, »nimm.«
Eine Welle von Zuneigung überschwemmte Madrone. Sie fühlte, wie ihre Knie nachgaben, sie sank zu Boden. Ihre Augen waren zu ausgetrocknet für Tränen, am liebsten hätte sie vor Verzweiflung geschrien.
»Gib ihr einen Schluck«, befahl Littlejohn, »aber wenn wir noch mehr Wasser brauchen, dann müssen wir einen Überfall wagen.«
»Tut mir leid«, sagte Madrone heiser.
»Es ist mein Fehler. Ich bin diese Strecke schon länger nicht mehr marschiert und habe vergessen, wie lang sie eigentlich ist, besonders an so heißen Tage wie heute. Wir hätten vielleicht mehr Wasser mitnehmen müssen. Aber ich wollte denen im Camp nicht zuviel wegnehmen.«
»Hier gibt es weder Weg noch Steg um uns herum«, warf Begood ein, »es ist eine Route, für die man mehr Wasser braucht als wir mitgenommen haben.«
»Es gibt Häuser, da unten im Canyon, nicht sehr weit von hier. Wir können eins davon heimsuchen. Kannst du noch laufen, Madrone?«
»Na, sicher«, sagte sie und versuchte aufzustehen. Littlejohn reichte ihr die Hand und zog sie hoch. Mühsam hielt sie das Gleichgewicht. Ihr Kopf fühlte sich bleischwer an, ihren Schläfen pochten. Sie mußte versuchen, nicht daran zu denken. Ganz einfach, nicht daran
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