Das Fünfte Geheimnis
nicht weiter brauchte. »Wenn ich nur ein gutes, allgemeines Desinfektionsmittel finden könnte...«
Big John brachte Kartons in die Regale zurück. Lately packte ihre Rucksäcke mit Madrones Medikamentenauswahl. Sie fühlte zunehmend ihre eigene Angst, aber es war schwer, sich zurückzuhalten und nicht noch eines und noch eines auszuprobieren.
»Hier«, sagte sie, »nimm' das, und...«
»Das ist alles«, sagte Lately. »Wir haben weder Platz noch Zeit für mehr. Big John, bring' den Scanner zurück. Nimm deinen Rucksack, Madrone. Vergiß nicht, Fingerabdrücke abzuwischen.«
Ihre Hände zitterten, als sie ihren Rucksack aufnahm. Der Boden unter ihr schien sich zu bewegen, und ihr Kopf war so schwer. Big John nahm den Scanner und rannte schnell durch die Korridore, um gleich darauf zurückzukehren. »Raus«, zischte Lately, und jetzt konnte sie tatsächlich Angst an ihm riechen. Vorsichtig drückte er die Tür einen Spalt auf, schaute auf den Bordstein draußen und machte ihnen dann Zeichen, sofort hinterherzukommen. »Schnell«, sagte er.
Sie rannten hinaus, Madrones Herz pochte heftig. Der Bordstein schien elastisch unter ihren Füßen, und sie konnte kaum erkennen, wo oben und unten war. Big John nahm ihre Hand und zog sie mit sich, die sechs Meter zwischen der Tür und dem Tor schienen sich meilenweit zu erstrecken. Sie hörten einen langen Pfeifton, wie von einem trauernden Vogel, als Begood sie durch das Tor hindurchwinkte, es hinter ihnen zuwarf und das Schloß verriegelte. »Runter«, flüsterte er, und sie warfen sich flach in die Schatten außerhalb des Zaunes, und lagen dort atemlos, als Schritte hinter ihnen zu hören waren, gleich drüben, auf der anderen Seite des Zaunes. Die Wache wird uns riechen, dachte Madrone. Ihre eigene Angst war so stark, daß sie sicher war, ihr Geruch sei über Meilen wahrnehmbar. Aber die Schritte verhallten. Sie erklommen still die trockene Seite des Hügels bis zur schützenden Höhle, wo Littlejohn auf sie wartete. Madrones Beine fühlten sich schwach an; sie wunderte sich, daß sie ihr Gewicht immer noch trugen.
»Keine Schwierigkeiten?« flüsterte Lately Littlejohn zu.
»Alles okay. Und ihr?«
»Knapp, aber nicht zu knapp«, flüsterte Lately. »Wenn unser Freund die Tür wieder abschließt und den Alarm wieder einstellt, werden sie bis zur Inventur nicht erfahren, daß sie beraubt wurden.«
Und jetzt freuten sie sich. Madrone dachte, wie Jungen, die ein aufregendes Spiel spielen. Würde ich, wenn ich dies regelmäßig machte, es auch gern tun? Der Adrenalinschub, die Angst und die Erleichterung, das waren schon faszinierende Erlebnisse.
»Wie fandest du deinen ersten Raubzug?« fragte Latey sie grinsend.
»Jetzt mag ich ihn«, sagte sie. »Jetzt, wo er vorbei ist.«
»Er ist noch nicht ganz vorbei«, sagte Littlejohn. »Laßt uns hier abhauen.«
Kapitel 19
Den Freeway zu überqueren war ganz einfach gewesen. Viele Dinge im Leben sind beim zweiten Mal ganz einfach, dachte Madrone. Sie, Littlejohn und Begood waren noch zwei Tage im Camp geblieben. Während sie Joan Dark pflegte und deren Infektion bekämpfte, hatte sie Littlejohn und Begood auf Wassersuche geschickt. Nachdem die beiden aufgebrochen waren, besserte sich Joans Befinden. Ihr verletztes Bein roch nicht länger nach Tod. Die roten Streifen am Bein verschwanden allmählich, die Wunde begann, sich zu schließen.
Sie waren die ganze Nacht hindurch marschiert. Madrone war leicht und beschwingt zumute. Halb fühlte sie sich wie in der Bienenwelt, halb noch benommen von dem Drogentest der Nacht zuvor. Nahrungsmittel waren hier noch knapper als bisher. Doch war sie eigentlich nicht hungrig, nur angenehm beflügelt, ihr war, als könnte sie jederzeit allem davonfliegen. Vielleicht hatten sich die Grenzen zwischen ihrer Bienenseele und ihrer Menschenseele etwas verschoben, verwischt. Ihr Marsch war eine Folge von verschiedenen Gerüchen und Düften, die von den gut gepflegten Gärten über ihnen ausgingen. Sie fühlte sich berauscht vom Flieder- und Jasminduft und anderen Gerüchen, die sie nicht benennen konnte. Bunte Lichtflecken tanzten vor ihren Augen, setzten sich immer neu zusammen, wie in einem langsam gedrehten Kaleidoskop.
Ihre Bienenseele führte sie ohne Zwischenfall durch enge Baugerüste unter dem Freeway. Plötzliche Höhen oder Tiefen waren kein Problem. Sie schritt sicheren Fußes darüber hinweg, als seien es samtene Blütenblätter oder grazile Staubgefäße von Blumen.
Nachdem sie
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