Das Fünfte Geheimnis
mehr!«
»Und wir erwarten keine Wunderheilung von dir.«
Wieso nicht? dachte Madrone. Alle anderen erwarteten es. Und ich habe oft genug Ähnliches zustande gebracht, nun erwarten es doch alle von mir.
»Wer spricht denn von Wunderheilungen?« schüttelte Madrone den Kopf, »ich spreche nur von etwas mehr Orangensaft, wie ich ihn heute schon einmal bekam. »Oder ähnlich tolle Sachen.« Plötzlich war sie wieder da, ihr Zorn auf alles, Zorn, der ihre Müdigkeit wegschwemmte, Zorn, der ihr neue Kraft verlieh. Vielleicht sollte sie das Kind jetzt noch einmal ansehen?
Aber dann ließ sie sich zurücksinken. Nein. Sie hatte gelernt, diesem plötzlichen Aufflammen ihrer Kräfte mit Mißtrauen zu begegnen. Es dauerte meistens nicht lang genug. Außerdem mußte sie heute nacht noch viele Meilen marschieren, die Stewards im Genick. Und sie brauchte nun wirklich etwas Vernünftiges zu essen.
»Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd, »vielleicht kann ich bald wieder zurückkommen? Vielleicht überfallen wir bald wieder eine Apotheke, und ich kann die nötigen Medikamente mitbringen.«
»Es ist reine Ironie«, sagte Sara, »mein Mann ist Manager einer pharmazeutischen Fabrik. Täglich gehen ganze Wagenladungen in die Camps. Vielleicht könnte ich mir eine plausible Story ausdenken. Aber lieber nicht, es ist zu unsicher und zu gefährlich. Übrigens, wie kann ich mich bedanken?«
»Sie haben mir heute das Leben gerettet. Wenn ich nun noch etwas zu essen und zu trinken bekommen könnte, retten Sie mich ein zweites Mal.«
»Würdest du mir den Gefallen tun und Lunch mit den anderen Damen einnehmen? Du kannst uns erzählen, woher du kommst.«
»Sind Sie völlig übergeschnappt?«
»Nein, nein, du kannst uns allen vertrauen. Diese Frauen sind meine Freundinnen, sie sind sogar mehr als nur Freundinnnen. Wir sind eine ganze Gruppe, aber du wirst selbst sehen. Die Hill-Boys sind nicht die einzigen, die einen Wandel herbeiführen wollen.«
»Ich muß hier irgendwie wieder wegkommen«, sagte Madrone.
»Warte, bis es dunkel ist. Dann fahre ich dich, wohin du willst.«
Dunkel überlegte Madrone, ob sie Sara nur deshalb Glauben schenkte, weil sie einfach zu müde war, um noch mehr nachzudenken. Ich bin wirklich furchtbar müde, gestand sie sich selbst ein. Ich werde einfach mit Sara fahren, es wird schon irgendwie weiter gehen.
»Okay«, sagte sie, und mit unglaublicher Mühe stand sie auf, beugte sich über das schlafende Mädchen und streichelte ihm die Stirn. »Angela geht es erst einmal besser. Lassen wir sie schlafen.«
✳✳✳
Sechs Frauen saßen um einen langen Tisch im Atrium. Eigentlich war es mehr ein gläsernes Refugium in der Mitte des Hauses, in dem üppige tropische Pflanzen wuchsen. Die Luft war sanft und mild. Ein kleiner Bach plätscherte über Steine und Felsbrocken und sammelte sich in einem gekachelten Wasserbecken. Wasserlilien entfalteten ihre rosigen Blüten. Philodendron und Farne schimmerten grün vom Gebälk. Orchideen nickten ihnen geheimnisvoll zu. Palmen in großen Kübeln spreizten stolz ihre Wedel. Madrone blieb stehen und sog den Geruch von Erde und Pflanzen ein. Wunderbar, dem Plätschern des Wassers zu lauschen. Eine Sekunde lang dachte sie, sie würde alles geben, jeden betrügen, nur um hier in diesem herrlichen Raum bleiben zu können und nie wieder hungrig und durstig zu sein.
Mary Ellen hatte ihr andere Kleidung gegeben, die sie »tragbarer« fand.
Madrone fand, daß sie der Phantasie eines Revolutionärs entsprungen sein mußten, vielleicht eines Kolonialherren oder eines Dschungel-Designers. Die Frauen am Tisch sahen allesamt schmal und elegant aus. Sie trugen helle Kleider und Kostüme in rosa und lila Tönen, die ihre helle Haut noch mehr hervorhoben. Es war seltsam, so viele hellhäutige Frauen versammelt zu sehen. Madrone kam es wie ein Beet seltener Blumen vor, sie fühlte sich etwas verloren.
Kostbares Porzellan mit Goldrand und geschliffene Kristallgläser schmückten den Tisch, Blumensträuße in großen Vasen verliehen dem Raum noch mehr bunte Üppigkeit. Und dann das Essen! Keine Rede von Eichelmehl mit Sirup. Stattdessen große Schüsseln mit frischem, köstlichem Salat, Hühnchenbrust in delikater Sauce, frischgebackene Brötchen, ein Stück Braten. Und zum Dessert kleine süße Kuchen, Sorbet, Eis, Kaffee, Likör. Allein die Gerüche des Essens ließen Madrone fast ohnmächtig werden.
Während des gesamten Essens wurde locker geplaudert, und niemand sprach
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